Deine Schritte im Sand
kleine Tochter. Ich fühle mich wohl.
NACH DEM KURZEN WOCHENENDE MIT DER FAMILIE muss Azylis für zwei Tage zu ausgedehnten Untersuchungen ins Pariser Krankenhaus. Ihr Zustand wird ganz genau analysiert, damit er in den kommenden Monaten zum Vergleich herangezogen werden kann. Die Ärzte stellen fest, dass die Krankheit Azylis bereits in dieser frühen Phase ihren Stempel aufgedrückt hat: Die Reizleitung der Nerven funktioniert schon jetzt, wenn auch kaum messbar, langsamer. Außerdem wird eine umfassende Blutuntersuchung vorgenommen, damit anhand des Ergebnisses in der ganzen Welt nach Stammzellen gesucht werden kann, die mit ihren Blutmerkmalen übereinstimmen.
Während des Krankenhausaufenthaltes hat der Professor eine unangenehme Nachricht für uns: Die Transfusion kann nicht in Paris durchgeführt werden. Wir sind entsetzt. Eines der Krankenhäuser, die solche Eingriffe routinemäßig durchführen, befindet sich nur fünf Metrostationen von uns entfernt. Stattdessen sollen wir mehr als siebenhundert Kilometer weit reisen – nach Marseille. Dadurch wird alles komplizierter. Wo sollen wir wohnen? Wie sieht es mit Gaspards Schulbesuch aus? Und mit Loïcs Arbeit? Wie wird es Thaïs in der ungewohnten Umgebung gehen – ihr, die so dringend feste Bezugspunkte braucht? Die Reise wird sich schwierig gestalten, aber uns bleibt keine Wahl. Das Leben von Azylis hängt davon ab.
ES IST NICHT EINFACH , in Marseille die passende Unterkunft zu finden. Das Krankenhaus schlägt uns ein Eltern-Kind-Zimmer vor, das jedoch nicht für eine ganze Familie ausreicht. Für uns aber ist es entscheidend, dass wir alle zusammenbleiben. Wir erkundigen uns überall, und nach und nach erreichen uns die ersten Antworten. Dann scheint die Lösung vom Himmel zu fallen. Chantal, eine entfernte Tante, der ich noch nie persönlich begegnet bin, öffnet uns ihre Türen und ihr Herz. Ohne uns zu kennen, bietet sie uns ihr Haus in Marseille an, das groß genug für uns alle ist und bis Ende September leer steht. Das übertrifft unsere kühnsten Hoffnungen. Chantal besteht nicht einmal darauf, uns zuvor kennenzulernen – sie vertraut uns einfach. Für mich ist sie eine vorbildliche Großzügigkeit. Ich dachte nicht, dass es so etwas heute noch gibt. Danke!
Und dann erhalten wir noch eine weitere gute Nachricht: Der behandelnde Professor hat Stammzellen ausfindig gemacht, die genau den Anforderungen von Azylis entsprechen. Die Konserve stammt aus den Vereinigten Staaten. Der Gedanke, dass auf der anderen Seite des Atlantiks irgendwann eine Mutter das Nabelschnurblut ihres Neugeborenen gespendet hat – Blut, das vielleicht das Leben unserer Tochter retten kann – bewegt mich sehr. Thank you!
Die Ereignisse überschlagen sich. Unsere Abreise steht unmittelbar bevor. Azylis wird Anfang August im Krankenhaus in Marseille erwartet, wo man sie entsprechend behandeln und ihr einen Zentralvenenkatheter für die Transfusion legen wird. Am 8. August wird sie auf der Isolierstation einquartiert. Und zwar auf unbestimmte Zeit. Bis dahin wollen wir jede Minute unseres Familienlebens nutzen. Wir genießen die Gegenwart der anderen. Doch die kostbaren Augenblicke finden ein jähes Ende. Thaïs’ Zustand verschlechtert sich plötzlich drastisch.
I CH KANN NICHT GLAUBEN , dass es sich um einen Zufall handelt.
Bisher ist es Thaïs gutgegangen. Aber nach unserer Rückkehr aus dem Krankenhaus konnte sie plötzlich nicht mehr sprechen. Ich glaube sogar, dass sie uns in den Tagen zuvor eine Art Vorschuss zärtlicher Worte gegeben hat. Nie habe ich sie so häufig »Ich habe dich lieb« sagen hören. Aber eines Morgens schwieg sie, und das blieb so. Es war ein Schock. Zwar war uns aufgefallen, dass ihr das Sprechen seit einiger Zeit große Mühe bereitete, doch nie hätten wir geglaubt, dass das endgültige Ende ihrer Sprachfähigkeit derart schnell kommen würde.
Traurig und verloren stehe ich vor meinem verstummten Töchterchen. Mit ihren zwei Jahren fing sie gerade erst an, die Sprache richtig zu entdecken. Ihre ersten, gestammelten Worte sind noch nicht lange her, ein stockendes »Mama« und »Papa«. Nun wird sie diese Worte nie wieder aussprechen. Und wie sollen wir uns von nun an mit ihr verständigen? Es ist doch so wichtig, sagen zu können, was man möchte, was man liebt und was man denkt! Man muss doch sprechen, um sich zu äußern und sich zu verstehen! Erst das miteinander Reden schafft Nähe. Thaïs’ Schweigen schüchtert mich ein. Ich leide
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