Deine Schritte im Sand
bleibt das Leben im Jetzt und Hier. Nicht mehr und nicht weniger. Carpe diem? Nicht ganz. Denn Sorglosigkeit existiert nicht mehr in unserem Leben.
Thaïs wird nervös. Ihr Haar fällt ihr ins Gesicht, und es will ihr nicht gelingen, es aus der Stirn zu streichen. Ihr Lieblingshaarband ist irgendwo auf dem Weg zwischen Auto und Bürgersteig abhandengekommen. Gaspard beginnt, in dem engen Krankenhauszimmer herumzutoben. Auch Azylis wird unruhig. Sie hat Hunger.
Es ist Zeit für den Abschied. Beklommen gebe ich Gaspard und Thaïs einen Kuss und wünsche ihnen eine gute Reise. Loïc bringt die Kinder in die Bretagne zu seinen Eltern. Mir kommt es vor, als reisten sie ans Ende der Welt. Wir werden ihnen in wenigen Tagen folgen. Trotzdem kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Schließlich weiß ich, was uns in dieser kurzen Zeit bevorsteht. Eine Nachricht, die unser Leben grundlegend ändern wird. In welche Richtung auch immer. Und zwar unwiderruflich. Jetzt aber sehe ich erst einmal Loïc und den Kindern nach. Thaïs entschwindet meinem Blick und fehlt mir bereits.
S CHWEIGEN. DRÖHNENDES SCHWEIGEN , das sich ausbreitet und explodiert. Betäubendes Schweigen. Schrecklicher als ein gellender Schrei. Schweigen, so entsetzlich wie die schwärzeste Leere. Es dauert nur wenige Sekunden. So lang wie ein Atemzug. Ein Atemzug, der alles mit sich fortreißt – unsere Hoffnung und unsere ganze Freude.
Das Urteil ist gefallen: Auch Azylis leidet an der Krankheit. Uns ist, als ob all unsere Träume brutal zerstört worden wären.
Bitte sagt mir, dass es nicht wahr ist. Dass wir nicht hier im Sprechzimmer des Arztes sitzen wie Marionetten, deren Fäden zerrissen sind. Bitte! Aber nein. Leider nein. Die Zeit der Tränen ist noch nicht zu Ende. Im Gegenteil. Die Heftigkeit der Zerreißprobe verdoppelt sich. Aber unsere Körper sind verbraucht, unsere Herzen müde und unsere Köpfe leer. Die Zukunft, die wir uns tröstlich und sanft vorgestellt haben wie eine weiche Wolldecke, hat sich mit einem Mal in ein stacheliges Distelfeld verwandelt, auf dem alles zerreißt. Ein unendliches Distelfeld.
ICH BEBE, WEIL LOÏC NICHT REAGIERT . Er sitzt mit leerem Blick und bleichem Gesicht auf der Couch. Still und abwesend.
Als der Arzt die Resultate verkündete, umschloss er nur meine Hand ein wenig fester, während mein Herz in einen Abgrund des Entsetzens stürzte. Wie ein Roboter besprach er mit den Ärzten das weitere Vorgehen. Ohne meine Schwester, die mit Azylis draußen im Flur gewartet hatte, auch nur mit einem Wort zu bedenken, ergriff er nach dem Gespräch die Babytragetasche. Nicht einmal sein Kind würdigte er eines Blickes. Er schwieg während des gesamten Heimwegs – eines Heimwegs, der mir endlos erschien.
Und jetzt sitzt er dort, direkt neben mir, aber ich spüre, dass er weit, weit weg ist. Und zum ersten Mal habe ich wirklich Angst. Bis jetzt waren wir miteinander im Einklang. Die Form unserer Überlegungen gestaltete sich zwar oft unterschiedlich, doch zum Schluss lief es immer auf das Gleiche hinaus. Wir durchlebten alles gemeinsam und einigten uns schließlich stets, auch wenn wir manchmal zuvor heftig diskutiert hatten. Das Wichtigste war, dass wir an einem Strang zogen. Loïc und ich schöpften unsere Kraft aus dem jeweils anderen. Wir wussten, dass uns Schlimmes erwarten würde, wenn wir uns je voneinander entfernten. Und genau deshalb wäre es so wichtig für mich, ihn schreien, wüten und sich auflehnen zu hören. Ganz gleich, was er tut – aber er soll eine Regung zeigen. Sprechen. Erst dann kann ich aufhören zu zittern.
Und dann sehe ich sie. Sie bebt in seinem Augenwinkel. Als sie über seine Wange rollt, reißt sie die Mauer zwischen uns nieder. Eine Träne. Die wohltätige, die rettende Träne. Loïc wird schwach. Wir sind gerettet. Wir weinen zusammen. Ja, wir beweinen unsere Zukunft. Aber wir werden nicht untergehen, weil wir zusammengehören. Alles andere erscheint mir nun weit fort. Loïcs Herz schlägt dicht an meinem. Ganz nah.
NACHT. DAS SCHWEIGEN ERSTICKT MICH . Es steht im krassen Gegensatz zu dem Getöse, das in mir herrscht. Ich erwache mit Beklemmungen. Ein Schraubstock scheint mein Herz und meinen Kopf zu zerquetschen. Ein Laut steigt in meiner Kehle empor, ein mächtiger, schmerzhafter Laut. »Wie soll es jetzt weitergehen? Was sollen wir tun? Wie überstehen wir diese Katastrophe? Wie sollen wir mit diesem Unglück weiterleben?«
Loïc zieht mich an sich und nimmt mich in die Arme. Dann sagt
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