Deine Schritte im Sand
GRAUSAMER TAG . Die Zelte sind errichtet, die Blumen arrangiert und das Buffet aufgebaut. Der klare Himmel verspricht einen wunderschönen Juli-Samstag. Und das ist auch gut so, denn heute heiratet Loïcs jüngere Schwester. Das Haus gleicht einem Bienenkorb. Alle machen sich fertig, bereiten sich vor, begutachten und schmücken sich. Nachdenklich breite ich mein Kleid aus und fluche leise vor mich hin. Ich wirke farblos, bis auf das Rot meiner geschwollenen Augen. Dazu das Grau meines traurigen Herzens. Ich trauere. Ich trauere um eine glückliche Zukunft. Um unsere Träume. Welch unsäglicher Hohn, dass der Kalender die Daten so nah zusammenlegt! Ich habe nicht die geringste Lust zu feiern. Weder mein Herz noch mein Körper sind auf Fröhlichkeit eingestimmt. Azylis ist acht Tage alt, und seit knapp achtundvierzig Stunden haben wir Gewissheit.
Ich sehe Gaspard, der in seinem schon jetzt nicht mehr ganz sauberen Anzug ein Stück entfernt mit seinen Vettern spielt. Er ist nicht mehr der gleiche kleine Junge, den ich gestern Abend mit aller Kraft festhalten musste, um seinen Schmerz einzudämmen. Bei der Erinnerung an das, was wir Gaspard und Thaïs gestern erklären mussten, überkommt mich ein tiefes Leid. Als wir ihm sagten, dass seine neue, kleine Schwester auch krank ist, brach Gaspard zusammen. Er hatte seine ganzen Hoffnungen auf dieses Baby gesetzt. In seinen Augen konnte ich das gleiche Gefühl von Leere erkennen, das auch mich befallen hat.
»Ich möchte nicht das einzige Kind in der Familie sein, das groß wird. Ich möchte mit meinen Schwestern aufwachsen. Mama, das geht doch nicht! Azylis kann nicht krank sein.«
Wir haben versucht, ihn zu trösten, doch das war nicht möglich. Einem solchen Schmerz kann man mit Worten nicht beikommen. Thaïs blieb ganz still. Schließlich beugte sie sich zu dem winzigen Baby hinunter und umfasste es mit ihren schmalen Ärmchen. Sie blickte der kleinen Schwester intensiv ins Gesicht und flüsterte: »Ich habe dich sehr lieb, kleines Baby.« Das war alles.
Als Gaspard heute Morgen aufwachte, war er ruhiger. Die Nacht hatte seine Ängste verjagt.
»Heute wird gefeiert. Wir bekommen Kuchen, Cola und Musik. Ich gehe heute Abend erst ganz spät ins Bett.«
Ich hingegen wäre am liebsten gar nicht erst aufgestanden, um diesen Tag nicht durchleben zu müssen. Die Gäste treffen ein. Sie sehen glücklich aus, umarmen sich, sprechen, lachen, prosten einander zu. Unterdessen weine ich. Aber jetzt bin ich nun einmal hier. Und ich will weder wie eine Vogelscheuche aussehen noch ein Spielverderber sein. Wenn ich verhindern will, dass unser Leben zu einer einzigen Tränenflut wird, muss ich lernen, die Feste zu feiern, wie sie fallen, die schönen Seiten des Lebens zu entdecken und die guten Zeiten zu genießen. Und heute ist ein Festtag, ganz gleich, wie es in meinem Herzen aussieht.
Zusammen mit meinem Kleid streife ich ein Lächeln über. Vielleicht wirkt es ein wenig gezwungen, aber das spielt keine Rolle. Ich stelle fest, dass Loïc den gleichen Entschluss gefasst hat. Er hat es geschafft, über seine Trauer hinauszuwachsen und sich aus tiefstem Herzen über das strahlende Glück seiner Schwester zu freuen. Seine Kraft verleiht mir Mut.
Azylis ist bei ihrem ersten Ausflug in die weite Welt wunderhübsch anzusehen. Einer nach dem anderen kommen die Gäste, um sie zu bewundern. Jeder macht uns ein Kompliment oder findet ein freundliches Wort. Über ihre Krankheit spricht niemand. Doch jeder mitfühlende Blick, jedes Streicheln meiner Schulter und jeder innige Kuss auf die Wange zeigt mir, dass alle mit uns fühlen. Ich begreife, dass die Menschen, die uns lieb und teuer sind, unseren Schmerz teilen. Sie teilen unseren Schmerz, aber sie feiern, genau wie wir. Der schönste Beweis ihres Mitgefühls ist ihr Lächeln. Sie wissen, dass Loïc und ich jeden Trick versuchen, um fröhlich zu erscheinen. Und sie unterstützen uns bei unseren Bemühungen. Da kommt mein Lächeln zum ersten Mal an diesem Tag wirklich von Herzen. Ich lächele unter Tränen, weil ich so gerührt bin.
Der Abend senkt sich mit angenehmer Kühle. Die Geräusche des Festes dringen durch das offene Fenster in mein Zimmer. Gaspard und sein Vater feiern weiter. Sie werden erschöpft und glücklich erst im Morgengrauen heimkehren. Azylis schläft an meine Brust gekuschelt tief und fest. Ich habe es mir auf dem Bett bequem gemacht, summe die Melodien der von Ferne herüberwehenden Musik mit und betrachte meine
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