Deine Schritte im Sand
darunter, ganz im Gegensatz zu ihr. Wieder einmal nimmt sie die Ereignisse als gegeben hin. Sie denkt nicht »nie mehr« oder »für immer«. Sie lebt allein im Augenblick. Und in diesem Augenblick spricht sie eben nicht. Ich würde am liebsten an ihrer Stelle schreien. Sie aber blickt uns ruhig an, und ihr Schweigen scheint zu sagen: »Vertraut mir.«
Was bleibt uns anderes übrig, als ihr zu folgen und ihr das Vertrauen zu schenken, das sie von uns fordert? Wir lassen uns von ihr zu einer neuen Art von Kommunikation anleiten. Im Lauf der Zeit bringt sie uns bei, wie man sich auf ganz andere Weise miteinander verständigen kann. Sie zwingt auch uns zu schweigen, und zeigt uns, wie man etwas anderes als Worte hört. Sie moduliert Laute, verstärkt Blicke und verfeinert Gebärden. Sie entwickelt eine ganze Palette verschiedener Arten zu lächeln, sich zu bewegen und Aufmerksamkeit zu erregen. Sie gestaltet eine neue Sprache. Ihre eigene Sprache. Ihr ist es zu verdanken, dass wir ihre Stummheit bezwingen. Um Thaïs zu verstehen, vergessen wir alles, was wir über die Kunst des Kommunizierens wissen. Wir lauschen mit allen Sinnen. Wir deuten ihre Bewegungen, wir entschlüsseln ihr Seufzen, wir enträtseln ihre Augenspiele. Schon bald bemerken wir kaum noch, dass sie nicht spricht. Wir haben den Eindruck, sie zu hören. Und wir verstehen sie ausgezeichnet. Dank Thaïs erhalten wir einen Einblick in die Unermesslichkeit der Verständigung jenseits von Worten.
Ihr »Ich habe dich lieb« fehlt mir nicht länger; zwar höre ich es nicht mehr, aber ich spüre es, empfinde es tief in mir.
DIE VERSCHLECHTERUNG VON THAÏS’ GESUNDHEITSZUSTAND beschränkt sich allerdings leider nicht nur auf die Sprache. Im Verlauf des ohnehin schon anstrengenden Juli schrecke ich eines Nachts aus dem Schlaf hoch. Eine Ahnung treibt mich in Thaïs’ Zimmer. Sie liegt erhitzt, mit verdrehten Augen und am ganzen Körper zitternd in ihrem Bett. Der sofort herbeigerufene Notarzt diagnostiziert Mangelernährung und Dehydrierung im fortgeschrittenen Stadium. Thaïs muss sofort ins Krankenhaus. Die Anzeige der Waage in der Klinik enthüllt uns die schreckliche Wahrheit. Acht Kilo. Thaïs wiegt nur noch acht Kilo.
In den letzten Wochen hat sie nur wenig gegessen. Sehr wenig sogar. Seit sie nicht mehr sprechen konnte, fiel ihr auch das Kauen und Schlucken zunehmend schwerer. Wir konsultierten einen Arzt, der ihr süße, mit Proteinen angereicherte Puddings verschrieb. Doch das war offenbar zu wenig. So gravierend zu wenig, dass ihr Zustand lebensbedrohlich wurde.
Kaum auszudenken, aber Thaïs war tatsächlich dabei gewesen, leise von uns zu gehen, ohne dass wir den Ernst der Lage bemerkten. Wir hatten sie nicht vernachlässigt – wir wussten es einfach nicht besser und konnten das Ausmaß der durch diese schreckliche Krankheit verursachten Katastrophen nicht einschätzen.
Obwohl wir wissen, was alles passieren kann, bringen wir es kaum fertig, die Auswirkungen auf unser tägliches Leben zu bewältigen. Umso mehr, da Thaïs’ Zustand sich ständig verändert. Er verschlechtert sich von Tag zu Tag, und wir müssen uns jeden Tag neu darauf einstellen.
Genau darin liegt die große Schwierigkeit degenerativer Erkrankungen. Nichts ist wirklich gesichert, und ich glaube, dass es noch problematischer wird, sobald ein Kind betroffen ist. Die Krankheit hat Thaïs mitten im Aufwachsen gestoppt. Gehen, Sprechen, Sauberkeit, Unabhängigkeit – alle Fähigkeiten, die sie eben erst erworben hat, verliert sie nun wieder. Und zwar rapide. Ihr Leben wirkt auf mich wie eine erschreckende Gauss’sche Kurve: ein langsamer, schrittweiser Anstieg, der brutal unterbrochen wird und in einen schwindelerregenden freien Fall übergeht. Ja, der gesundheitliche Verfall von Thaïs macht mich schwindelig. Und dabei sind wir noch lange nicht am Ende aller Qualen angekommen … ganz zu schweigen von den Erkenntnissen. Wieder erklingt es tief in meinem Innern: »Wenn du wüsstest …«
Von jetzt an werden wir unsere Aufmerksamkeit vervielfachen und jede erhöhte Temperatur und jede Veränderung ihres Benehmens mit Argusaugen überwachen müssen. Doch zunächst einmal muss Thaïs wieder zu Kräften kommen. Sie ist so matt, dass es ihr schwerfällt, Nahrung aufzunehmen. Sie wird über eine Sonde künstlich ernährt. Nur dann und wann gelingt es ihr, einige Happen zu essen. Jeder Bissen bedeutet einen Sieg.
Nach einigen Tagen auf der Intensivstation wird sie verlegt, um in der
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