Deine Schritte im Sand
halten. Mehrfach habe ich ihn angerufen, um zu erfahren, wo sie sich befinden. Beim letzten Telefonat waren sie gerade in Marseille angekommen, und sie werden das Krankenhaus in wenigen Minuten erreichen. Wie lang wenige Minuten doch dauern können, wenn man wartet … Eine Woche lang habe ich Thaïs nicht gesehen. Ich freue mich auf sie. Wieder öffnet sich die Tür zum Flur. Ich drehe mich um. Sie ist da.
Ich nehme sie in die Arme und überschütte sie mit Küssen, ehe ich sie näher betrachte. Ihre Wangen wirken ein wenig rundlicher, obwohl sie immer noch erschreckend mager aussieht. Ihr Gesichtchen ist blass, und sie wirkt sehr müde. Aber ihr strahlendes Lächeln ist wieder da, und in ihren Augen sprüht wieder ein kleiner Lebensfunke. Auch wenn es noch einige Zeit dauern kann, ehe sie ganz wiederhergestellt ist, weiß ich, dass sie sich auf einem guten Weg befindet. Zumindest vorläufig.
Azylis, die in ihrer Tragetasche liegt, wird unruhig. Gleich werden wir sie in ihr Zimmer zwei Etagen weiter oben bringen. Aber zunächst einmal stattet sie ihrer großen Schwester einen kurzen Besuch ab. Thaïs freut sich, sie zu sehen. Ihre Freude berührt uns zutiefst. Ich glaube, zwischen diesen beiden kleinen, kranken Mädchen besteht eine wirkliche Solidarität. Eine instinktive Gemeinschaft, die weit über die Blutsbande hinausgeht. Auch Gaspard ist da und bewegt sich stolz zwischen seinen beiden Schwestern.
Der Rahmen entspricht nicht unbedingt einer fröhlichen Wiedersehensfeier, aber wir achten weder auf die kahlen Wände des winzigen Zimmerchens noch auf die ein- und ausgehenden Krankenschwestern. Wir fühlen uns unberührt von alledem. Ich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben. Für immer.
Leider haben auch die schönsten Augenblicke ein Ende. Thaïs muss versorgt werden. Zusätzlich zum unausweichlichen Fiebermessen wird die Nasensonde gewechselt, durch die sie ernährt wird. Die Prozedur ist ihr unangenehm, doch Gaspard kann seinen Blick nicht davon lösen. Wir müssen uns wieder trennen. Gaspard kehrt nach Hause zurück, Azylis wird in ihr Zimmer gebracht, und Thaïs bezieht das ihre. Jeder bewegt sich in eine andere Richtung.
Von diesem Tag an wird das Krankenhaus zu unserem Treffpunkt. Solange Azylis noch nicht auf der Isolierstation untergebracht ist, können wir uns alle an Thaïs’ Bett versammeln und manchmal sogar kleine Ausflüge nach draußen zum Spielplatz des Krankenhauses unternehmen. Alle fünf. Wie eine ganz normale Familie.
M AN SIEHT NUR NOCH ZWEI SCHWARZE AUGEN . Verdutzt schauende Augen zwischen einer Kopfhaube und einer überdimensionalen Gesichtsmaske. Azylis steckt in einem viel zu großen sterilen Anzug. Nach einer gründlichen Reinigung mit Antiseptika wurde sie entsprechend den Vorschriften für die Sterilräume der Klinik eingekleidet. So eingewickelt sieht sie noch winziger aus, als sie ohnehin schon ist. Die Reinräume der Klinik sind nicht auf Neugeborene eingerichtet; so kleine Patienten werden hier nur selten behandelt. Azylis ist gerade erst fünf Wochen alt … Also haben wir uns so gut als möglich beholfen. Wir haben die Ärmel umgekrempelt und alles, was zu lang war, mehrfach umgeschlagen. Das Resultat sieht gar nicht mal so übel aus. Und dann erscheint Loïc in der gleichen Aufmachung. Ich muss lachen. Zum ersten Mal sehe ich ihn in dem Kittel, der von nun an zu unserer Uniform werden wird. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabeihabe! Schnell werden wir wieder ernst, denn der Augenblick, vor dem wir uns so gefürchtet haben, ist gekommen. Loïc nimmt Azylis auf den Arm und trägt sie in ihr Zimmer auf der Isolierstation, das schon für sie vorbereitet ist. Ich begleite die beiden bis zum Eingang.
Als sich die Tür hinter ihnen schließt, fällt mir auf, dass ich Azylis nicht zum Abschied geküsst habe, und mir wird klar, dass mehrere Monate vergehen werden, ehe ich es wieder tun kann. Küssen ist auf der Isolierstation nicht gestattet. Schon jetzt fühle ich mich wie eine Drogensüchtige auf Entzug. Die Verbindung zwischen meinem Baby und mir ist noch sehr symbiotisch. Ich muss die Kleine fühlen, sie berühren, sie küssen. Es ist, als hätte man einen Teil von mir entfernt.
Der Zutritt zur Isolierstation ist stark reglementiert. Man kann nicht einfach so hineingehen. Die Patienten dürfen immer nur eine Person bei sich haben, niemals mehr. Jeder Besuch wird kontrolliert. Zunächst muss man sich über eine Rufanlage anmelden. Durch die erste Tür gelangt man
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