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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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erledigt ist, erleben sie ein seltsames Defilee, das feierlicher wirkt als der Einzug der Heiligen Drei Könige. Loïc betritt das Zimmer mit Thaïs auf dem Arm. Sie ist schön wie Schneewittchen in den Armen ihres Prinzen. Raphaëlle folgt ihm auf dem Fuß mit der Pumpe für die künstliche Ernährung, gleich hinter ihr kommt Pierre mit der Sauerstoffflasche und der Flasche mit dem Lachgasgemisch gegen die Schmerzen. Ich beschließe den Festzug mit Azylis auf dem Arm, die in ihrem roten Kleidchen wie eine blühende Blume aussieht. Ja, ich habe mir die Zeit genommen, ihr etwas Hübsches anzuziehen, um dem improvisierten Fest einen würdigen Rahmen zu geben. Wenn schon, denn schon!
    Zwar haben wir uns nun entschlossen, Azylis aus ihrem Zimmer zu holen, aber die Vorsichtsmaßnahmen haben wir natürlich nicht vergessen. Alle Anwesenden desinfizieren sich sorgfältig die Hände und setzen eine Maske auf. Auch Azylis trägt eine Maske, die eigentlich nur Nase und Mund bedecken sollte, aber übers ganze Gesichtchen gerutscht ist. Außerdem sitzt sie in einer speziellen Sitzschale unter einer transparenten Abdeckung. Natürlich kann sie die Vorsichtsmaßnahmen überhaupt nicht leiden und zerrt an ihrer Maske. Mit Erfolg. Innerhalb weniger Minuten hat sie den Schutz abgerissen, zu einer Kugel zerknüllt und weit weggeworfen. Aber das genügt ihr noch nicht. Mit aller Kraft versucht sie die Plastikabdeckung fortzuschieben, die sie vom wirklichen Leben trennt. Bald, mein Liebling! Bald darfst du die Welt mit deinen Fingern berühren.
    Drei, zwei, eins, los! Das Signal ist gegeben. Wir dürfen unsere Päckchen öffnen. Vor allem Gaspard ist kaum zu halten. Er schimpft über zu fest gezurrtes Geschenkband und zerreißt fieberhaft das Papier. Und dann freut er sich mit einer Begeisterung, die bei jeder neuen Entdeckung größer wird. Er ganz allein macht mehr Lärm als die gesamte restliche Familie. Loïc zeigt Azylis ihr neues Spielzeug nur von weiten, weil es noch nicht sterilisiert ist.
    Die Weihnachtsgeschenke für Thaïs haben mir wirklich Kopfzerbrechen bereitet. Was kann man einem kleinen Mädchen wie ihr überhaupt schenken? Schwierig! Sie interessiert sich weder für Puppen noch für Spiele oder Schmuck. Aber ich wollte unbedingt etwas finden, das ihr gefällt. Schließlich wählte ich eine Duftkerze und eine CD mit Märchen. Ich packe beides für sie aus, beschreibe genau, was ich sehe, und halte ihr die Kerze unter die Nase. Sie schnuppert. Sie kann riechen …
    Gaspard schmiegt sich mit strahlenden Augen an mich, die Hände voller Schätze.
    »Machst du deine Päckchen nicht auf, Mama?«, erkundigt er sich verwundert.
    »Nein, jetzt noch nicht. Später.«
    Ich habe mein Geschenk längst bekommen. Mit Blicken umfange ich meine drei in einem Raum versammelten Kinder und kann gerade noch ein Schluchzen unterdrücken. Versprochen ist versprochen.
    Die Ausnahmesituation geht schnell wieder zu Ende; Thaïs und Azylis kehren schon bald in ihre stillen Zimmer zurück. Aber der Weihnachtszauber nimmt uns ganz gefangen. Nach dem Essen setzt sich das Fest bis in die Morgenstunden fort. Niemand wagt, die Schönheit dieses Abends zu zerstören. Als wir schließlich wieder allein sind, kuscheln Loïc und ich noch lange in einer Sofaecke. Stumm schmiegen wir uns in die Tiefe der Nacht. Die Sternchen glitzern immer noch. Nicht die am Baum, sondern die in meinen Augen. Das war mein schönstes Weihnachten.
    DA IST DER BRIEF. ZUSAMMENGEFALTET UND ZUGEKLEBT liegt er in Thaïs’ Gesundheitspass. Auf dem Umschlag steht nur: »Zu Händen des Notarztes«. Der Brief stammt vom Kinderneurologen. Er hat ihn vor einigen Tagen auf unsere Bitte hin geschrieben, was ihm nicht leichtgefallen ist. Aber heute Abend ist uns dieser Brief eine wichtige Hilfe. Als die Besatzung des Notarztwagens kurz nach Mitternacht unsere Wohnung betritt, reiche ich ihn mit zitternden Händen und ohne ein Wort dem Arzt. Der Mediziner öffnet ihn und liest. Schließlich steckt er das Schreiben wieder in den Umschlag, sagt: »Ich habe verstanden«, und betritt Thaïs’ Zimmer.
    Thaïs geht es schlecht. Sehr schlecht. Sie hat über 40 Grad Fieber, aber ihre Hände und Füße sind eiskalt. Ihr Puls liegt bei zweihundert Schlägen pro Minute. Sie hat das Bewusstsein verloren. Während sich die Besatzung des Notarztwagens um sie kümmert, falte ich den Brief auseinander und lese ihn zum ersten Mal selbst. Der Kinderneurologe informiert den Kollegen darüber, dass es sich um

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