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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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brauchen, sind Hoffnung und Optimismus. Für uns sind sie lebensnotwendig. Und ihr könnt sofort damit anfangen, sie zu erhalten, indem ihr uns ein gutes neues Jahr wünscht. Und bitte – verzichtet auf die gekünstelten Stimmen, den mitleidigen Tonfall und die wichtigtuerischen Blicke. Wünscht es uns aus ganzem Herzen. Und nicht nur einmal. Lieber hundertmal. Wer Angst hat, des Guten zu viel zu tun, tut nicht genug.
    Wir wissen nicht, wann und wie, aber wir wissen sehr genau, was uns die kommenden Monate bringen werden. Oh ja, wir wissen es nur allzu gut. Wir wollen nichts von dem verdrängen, was sich in unserem Leben anbahnt, aber wir möchten jetzt nicht daran denken. Der Augenblick kommt noch schnell genug. Wenn wir uns heute schon auf die bevorstehende Zerreißprobe konzentrieren, verharren wir in unserer Erstarrung, bis sie uns vernichtet. Gelähmt vor Angst und von Verzweiflung zerrissen.
    Das Schlimmste ist uns sicher. In Ordnung. Aber auch das Beste gibt es noch. Und es verdient, dass man sich darum kümmert. Also bitte: Wünscht uns für das nächste Jahr nichts Gutes oder Besseres – wünscht uns das Allerbeste!
    UNSER LEBEN IST WEISS GOTT KEIN MÄRCHEN . Und doch sind wir von hübschen Prinzessinnen umgeben. Die eine ist Prinzessin Courage, die immer tiefer in ihren Dornröschenschlaf sinkt; die andere ist Prinzessin Federgewicht, die mit königlichem Hochmut ihre Fläschchen verschmäht. Bei Azylis macht uns die Waage nervös. Mit über sieben Monaten wiegt sie nicht einmal fünf Kilo, womit sie weit unter dem tiefsten Punkt der Kurve im Vorsorgeheft liegt. Wir haben längst aufgehört, ihr Gewicht zu kontrollieren, denn das deprimiert uns nur, ohne in irgendeiner Weise ihren Appetit zu beeinflussen.
    Sie trinkt zwar, aber immer nur winzige Mengen. Wir probieren alles, damit sie ein bisschen zunimmt. Da die Quantität nicht ausreicht, versuchen wir es mit der Qualität. Die Ernährungsberaterin überlegt sich die tollsten Rezepte, die Azylis’ Ernährung bereichern sollen. Jeder Schluck hat einen hohen Kaloriengehalt. Außerdem füttern wir sie öfter. Innerhalb von zwölf Stunden bekommt sie fünf Fläschchen. Die Intervalle sind nicht sehr ausgedehnt, denn sie trinkt unendlich langsam. Für jedes Fläschchen braucht sie mindestens eine Stunde. Und so verbringen wir zwischen dem Aufstehen und dem Zubettgehen fünf Stunden im Zimmer von Azylis, schimpfen leise hinter unseren Masken über ihre langsame Trinkweise und fürchten, dass sie eines Tages zur Bulimikerin wird. Aber nichts hilft. Weder unser Betteln und Flehen noch Ablenkung, Versprechungen oder Streicheln bringen sie dazu, schneller zu trinken. Wir müssen uns in Geduld üben.
    Geduld. Eine Tugend, mit der wir offenbar ungenügend ausgestattet sind. Die Marathon-Fütterungen von Azylis machen uns mürbe. Loïc und ich fürchten sie jeden Tag ein bisschen mehr. Dabei weiß ich genau, dass Azylis nicht etwa Spielchen mit uns treibt. Ihre Schluckbeschwerden sind Nachwehen der Chemotherapie. Trotzdem mangelt es mir manchmal an Geduld. Ich habe das schreckliche Gefühl, meine Zeit damit zu vergeuden, ergeben ihre winzigen Schlückchen zu zählen.
    Fast gegen ihren Willen kommt uns Thérèse zu Hilfe. Eine ihrer ganz besonderen Fähigkeiten ist nämlich ausgerechnet Geduld.
    Thérèse hat eine völlig andere Auffassung von Zeit als wir. Sie wundert sich immer, wenn sie uns gegen die Zeit anrennen sieht; wenn wir schimpfen, wo Geduld angebracht wäre, wenn wir Warteschlangen verfluchen. Thérèse hat nie das Gefühl, Zeit zu vergeuden. Das, was sie tut, lebt sie ganz und gar. Und jeder Augenblick ihres Lebens ist ihr wichtig. Wenn sie Azylis das Fläschchen gibt, tut sie es ohne Blick auf die Uhr. Sie erfreut sich an der Zeit, die sie mit der Kleinen verbringen darf, und denkt dabei weder an die getrunkene Milchmenge noch an die verstreichende Zeit.
    Genau so ist es, wenn sie mit Azylis ins Krankenhaus fährt. Jeder weiß, dass man im Krankenhaus oft und lange warten muss. Ich werde dabei schnell unleidlich, nervös und ärgerlich. Thérèse hingegen sieht in den Wartezeiten eine Gelegenheit, interessante Leute kennenzulernen, ein neues Umfeld zu entdecken und sich im hektischen Tagesablauf eine Ruhepause zu gönnen. Für sie hat Warten nichts mit Leere zu tun, sondern ist die Quelle ungeahnten Reichtums. Thérèse setzt ihr Leben nicht in Klammern, wenn sie sich gedulden muss, sondern sie lebt in einem anderen Rhythmus – mehr nicht.
    Ich

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