Deine Schritte im Sand
bewundere sie rückhaltlos. Ihre Art, die Dinge zu sehen, und die Heiterkeit, die sie dabei ausstrahlt, veranlassen mich, ihr nachzueifern. Aber Geduld zu erlernen ist schwer. Ich brauche Tage und Wochen, bis sich meine Wahrnehmung verändert hat und ich die Zeit mit Azylis und ihrem Fläschchen als besonders kostbare Momente mit meiner kleinen Tochter genieße. Ich muss mich zusammennehmen, um nicht an die Dinge zu denken, die ich stattdessen tun könnte. Ich bemühe mich, ruhig und sanft im Augenblick zu leben und mir Zeit zu nehmen.
Diese neue Haltung, Thérèses wertvolles Geschenk an mich, soll noch sehr wichtig für mich werden. In vielen Lebenslagen, aber vor allem mit Thaïs.
ALS OB WIR NICHT OHNEHIN SCHON VIEL ZU TUN HÄTTEN , muss Azylis Anfang Januar außer der Reihe ihrer wöchentlichen Besuche noch einmal ins Krankenhaus. Und zwar nicht in das Krankenhaus, das sich um die Nachsorge der Transplantation kümmert, sondern in die Klinik, in der ihre Ausgangskrankheit behandelt wird. Der Termin ist wichtig; der auf MLD spezialisierte Professor möchte unsere kleine Tochter sehen. Es ist an der Zeit, die Entwicklung ihres Zustands mit den Werten nach der Geburt zu vergleichen.
Azylis muss für drei Tage zur stationären Untersuchung. Sie hat ein volles Programm: Blutabnahme, MRT , Lumbalpunktion, Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, akustisch evozierte Potenziale – Dinge, die mir nicht viel sagen, aber Bände sprechen können.
Ich war nicht darauf eingestellt. Aus Erfahrung wusste ich, dass Azylis mehrere Tage im Krankenhaus ganz gut verkraften würde. Sie hat schon so viele davon erlebt, dass es ein Teil ihres Lebens ist, und verhält sich ungerührt. Doch dieses Mal ist es anders. Azylis erlebt die zweiundsiebzig Stunden Klinikaufenthalt wie Ferien im Club Med. Sie strahlt vor Freude, als sie ihr Zimmer bezieht und ihr neues Spielzeug entdeckt, das natürlich viel interessanter ist als das zu Hause. Auch über die neuen Krankenschwestern, die sich zwar hinter ihren Masken verbergen, aber immer bereit sind, sie zu verhätscheln, freut sie sich sichtlich. Alles ist neu und macht ihr Spaß. Sie kümmert sich nicht einmal um die manchmal beschwerlichen und schmerzhaften Untersuchungen. Sie weint nur, solange es unbedingt notwendig ist, um dann sofort wieder zu lächeln und alle Neuentdeckungen auszunutzen. Als ich sie so entspannt erlebe, vergesse ich fast den Grund des Klinikaufenthalts.
Azylis und ich sind gerade in ein hübsches Holzpuzzle vertieft, als der Arzt kommt, die Tür hinter sich schließt und uns die Neuigkeit verkündet: Während der vergangenen sechs Monate ist die Krankheit nicht weiter fortgeschritten. Zwar zeigen die Untersuchungsergebnisse noch immer eine Verlangsamung im Zentralnervensystem, diese ist jedoch nicht gravierender als im Juli. Das periphere Nervensystem hingegen ist in Ordnung – und zwar wider Erwarten.
Ich finde keine Worte, um mein Glück zu beschreiben, ebenso, wie mir zuvor die Worte für mein Leid fehlten. Auch der Arzt schweigt. Er lächelt nur und genießt die gute Nachricht.
Natürlich ist uns klar, dass die guten Resultate kein Garant für Azylis’ Genesung sind. Sie bedeuten nicht, dass sich die Dinge nicht mehr verschlechtern können, doch im jetzigen Moment ist es das Beste, was wir erhoffen konnten.
Seit fast einem Jahr zwinge ich mich, von Tag zu Tag zu leben. Und so werde ich auch heute nicht daran denken, was die Zukunft für Unannehmlichkeiten bringen könnte, sondern nur diesen herrlichen Augenblick genießen. Und mit meiner Tochter weiterspielen.
E INMAL MIT GESCHLOSSENEN AUGEN und fest geballten Fäusten tief durchatmen. Jetzt brauche ich viel Mut. Und ich spreche es aus:
»Gaspard, ich habe leider eine schlechte Nachricht. Ticola hat das Zeitliche gesegnet.«
»Was bedeutet das: das Zeitliche gesegnet?«
»Das bedeutet, dass er … hm … uns verlassen hat. Er ist nicht mehr da.«
»Ist er weggelaufen? Wo ist er denn jetzt? Wann kommt er zurück?«
»Er kommt nicht mehr zurück, Gaspard. Er ist … hm … nun ja, er ist tot.«
»Ticola ist tot? Tot für immer? Oh, Mama, das ist ja schrecklich!«
Das neue Jahr beginnt mit Tränen. Gaspard beweint das Ableben seines treuen kleinen Freundes. Er hat ihn schon einige Monate nicht mehr gesehen. Ticola ist nicht mit uns nach Paris übergesiedelt, weil seine Anwesenheit in der Wohnung nicht mit den Hygienevorschriften für Azylis vereinbar war. Loïcs Eltern in der Bretagne hatten sich seiner
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