Deine Schritte im Sand
Mama, was soll ich tun, wenn ich morgens aufwache, und Thaïs ist tot? Soll ich euch dann wecken oder lieber nicht?«
Mir glitt die Kaffeetasse aus den Händen und zerbrach. In diesem Augenblick wurde uns klar, dass wir die Zimmer dringend anders verteilen mussten. Gaspard sollte auf keinen Fall Zeuge von Thaïs’ letztem Atemzug sein. Das war nicht seine Rolle, sondern unsere. Wir haben uns dafür entschieden, Thaïs unter allen Umständen zu Hause zu pflegen; nun müssen wir zu dieser Entscheidung stehen und unseren Tagesablauf so organisieren, wie es für uns alle das Beste ist.
All das erkläre ich Gaspard in einer seinem Alter angemessenen Form.
»Wir nehmen sie dir nicht weg. Wir wollen dich nur beschützen. Du sollst so leben dürfen, wie es gut für dich ist, mein Schatz.«
»Ja, Mama, aber meine Schwester gehört zu meinem Leben. Irgendwann ist sie nicht mehr da, und ich kann sie nie mehr sehen. Und irgendwann bin ich erwachsen, und dann ist es zu spät.«
Wieder einmal führt mich die vernünftige Lebensnähe seiner Argumente auf den Boden der Tatsachen zurück, und ich gebe mich geschlagen.
»Du hast recht, Gaspard. Mit deiner Schwester zu spielen gehört zu deinem Leben. Und ich finde das auch sehr schön. Aber du sollst dich nicht verantwortlich fühlen. Weißt du was? Wir bringen sie trotzdem in unser Zimmer, aber du darfst zu ihr, wann immer du willst. Tag und Nacht. Und du kannst bleiben, solange du willst.«
Es vergeht kein einziger Tag, an dem Gaspard Thaïs nicht besucht. Oft setzt er sich nach der Schule an ihr Bett und erzählt ihr, wie sein Tag verlaufen ist. Er lacht, und sie lächelt, wenn er ihr von den Spielen im Pausenhof, den Krümelschlachten in der Schulkantine und den Rügen seiner Lehrerin berichtet. Er bittet uns, das Zimmer zu verlassen, wenn er ihr seine Kindergeheimnisse anvertraut – Geheimnisse, die wir Großen nicht erfahren dürfen.
»Thaïs kann ich alles sagen. Das ist sehr praktisch, denn sie plaudert nie etwas aus. Aber ich glaube, sie würde auch nichts verraten, wenn sie noch sprechen könnte.«
Manchmal stürmt Gaspard wie ein Wirbelwind ins Zimmer, gibt seiner Schwester einen Kuss und ist auch schon wieder draußen. Dann geht er in sein Zimmer und schließt die Tür. In seinem Reich ist er in seiner eigenen Welt. Einer Welt von Dinosauriern mit wissenschaftlichen Namen, von bis an die Zähne bewaffneten Piraten, tapferen Recken und allwissenden Robotern. Einer Welt ohne MLD , ohne Stammzellentransplantation und ohne medizinische Geräte. In der unschuldigen Welt eines kleinen Jungen.
I CH BEFINDE MICH INMITTEN DER STERNE . Der Sterne, die an unserem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer glitzern. Gaspard hat bunte Girlanden in den Händen und hilft mir hingebungsvoll beim Schmücken. Eine CD mit Weihnachtsliedern läuft, die er fröhlich mitsummt. Stille Nacht, heilige Nacht. Die unterschiedlichen Schuhe, die rings um den Christbaum stehen, gehen in der Masse bunt eingepackter Päckchen fast unter. Der mit goldenen Glitzersternchen bestreute Tisch ist rot und weiß gedeckt. Dreizehn große Weihnachtsteller warten auf die naschhaften Finger unserer Gäste. Es dämmert. Wir zünden die Kerzen an und dimmen die Lampen. Es ist Weihnachten.
Loïcs Eltern und Schwestern sind gekommen, um mit uns zu feiern. Wir haben Gaspard versprochen, dass keiner von uns an diesem zauberhaften Abend ein trauriges Gesicht macht. Mit einem perlenden Glas Sekt in der Hand versammeln wir uns um den Baum. Jeder steht vor seinen mit Geschenken gefüllten Schuhen. Auch die Schuhe von Thaïs und Azylis sind dabei. Wir haben sie symbolisch dazugestellt. Ich betrachte die liebevoll gepackten Päckchen und spüre ein Ziehen in meinem Herzen. Aber keine Tränen, versprochen!
Als sich schließlich alle auf ihre Geschenke stürzen wollen, fragt Gaspard plötzlich schüchtern: »Was ist mit meinen kleinen Schwestern? Könnten wir nicht vielleicht … ausnahmsweise …? Nur heute Abend. Damit wir alle zusammen sind.«
Er bittet an diesem besonderen Abend um eine Verschnaufpause. Loïc und ich wechseln einen Blick. Gaspards Worte haben uns berührt. Heute ist Weihnachten, da ist doch alles erlaubt, oder?
Thaïs döst in ihrem Bettchen, Azylis plappert in ihrem Zimmer vor sich hin. Beide sind ausgesprochen brav und ahnen nicht, was sie erwartet. Im Wohnzimmer bereiten Zabeth und Armelle alles für die beiden vor. Sie schieben Sofa und Couchtisch beiseite und räumen die Steckdosen frei. Nachdem alles
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