Deine Schritte im Sand
nicht verbessern. Für sie gibt es kein Zurück, sie wird nie mehr gesund. Man kann höchstens auf einen kleinen Aufschub hoffen. Die Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes lässt vermuten, dass die häusliche Krankenpflege nicht von langer Dauer sein wird. Trotzdem ist die Entwicklung nicht vorhersehbar. Die Krankenschwestern sind sich dessen bewusst. Und sie wissen auch, was uns und sie erwartet. Doch das schreckt sie nicht ab, im Gegenteil. Die etwas andere Anwendung ihrer Fachkenntnisse scheint ihnen zu gefallen – jemanden nicht zu versorgen, um ihn zu heilen, sondern um ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ihr Vertrag ist klar: Er dauert so lange, wie Thaïs lebt. Wenn die Schwestern manchmal Zweifel in unseren Augen lesen, trösten sie uns, indem sie es wiederholen: »Wir bleiben bis zum Ende bei Ihnen.«
Die häusliche Krankenpflege erleichtert unser Leben und begleitet das von Thaïs. Für uns ist es eine Entlastung, medizinisches Personal bei uns zu wissen. Ganz allmählich werden wir wieder mehr zu Eltern und weniger zu laienhaften Pflegern. Jeder kehrt an seinen Platz zurück, und dadurch wird alles viel besser. Die Schwestern helfen uns beim morgendlichen Waschen und Ankleiden von Thaïs, der Verabreichung von Medikamenten und anderen alltäglich wiederkehrenden Dingen. Sie schätzen Thaïs’ Zustand ein, prüfen das Fortschreiten der Krankheit und kümmern sich um sie, wenn sie Schmerzen hat. Sie sprechen sich mit den Ärzten ab, koordinieren die Einsätze und sorgen für den Nachschub von Medikamenten und Verbandsmaterial.
Jeden Tag kommt eine Krankenschwester zu Thaïs, ganz gleich, ob es regnet, stürmt oder schneit. Allmählich gewöhne ich mich an die täglichen Besuche, und nicht nur das: Ich freue mich darauf, ich erwarte sie sogar mit Ungeduld. Zwischen uns entsteht ein festes Band. Es ist ganz anders als im Krankenhaus, wo die Umgebung eine gewisse Distanz schafft. Hier sind wir zu Hause; wir heißen die Schwestern in der intimen Atmosphäre unserer Familie willkommen. Sie nehmen Anteil an unseren schlechten Tagen, kennen unsere Launen, unsere Schmerzen und unsere Freuden. Ganz natürlich und einfühlsam teilen sie unser Leben, bleiben aber immer zurückhaltend. Und sie gewinnen Thaïs lieb. Wie sollte es auch anders sein? Man kann nicht gleichgültig bleiben, wenn man einen Kranken in dessen Zuhause betreut. Keine der Schwestern verbirgt ihr Mitgefühl für Thaïs. Manchmal kommen sie sogar zu zweit und kümmern sich um sie. Sie ist eben doch eine kleine Prinzessin!
MIT TRAURIGEM GESICHT STEHT GASPARD AN DER TÜRSCHWELLE . Heute zieht Thaïs um. Wir verlegen sie von dem Zimmer, das sie mit ihrem Bruder geteilt hat, ins Elternschlafzimmer, das wir selbst räumen. So ist es besser für sie und Gaspard. Im Kinderzimmer fühlte man sich mit den Sauerstoffflaschen, den Behältern mit dem Gasgemisch gegen die Schmerzen, den Schläuchen, den Sensoren, den Beuteln mit Nährlösung und dem Verbandsmaterial wie in einem Krankenhaus. Raum zum Spielen blieb kaum noch.
Gaspard verzieht das Gesicht und macht einen Schmollmund.
»Ich will keinen Platz zum Spielen. Ich will meine Schwester bei mir haben.«
Während ich unser Bett abbaue, erkläre ich ihm noch einmal die Gründe für den Umzug. Zumindest die vordergründigen. Dass das Zimmer zu klein ist, um Thaïs ordentlich zu versorgen, dass die Schwestern sich bewegen müssen, dass überall Medikamente herumstehen, dass seine Schwester Ruhe zum Schlafen braucht und so weiter.
Gaspard lässt sich davon nicht überzeugen. Plötzlich bricht er in Tränen aus.
»Ich will mit Thaïs zusammenbleiben! Ich will mit Thaïs zusammenbleiben!«, schluchzt er.
Erst jetzt finde ich den Mut, ihm zu sagen, was ich eigentlich verschweigen wollte.
Dass die Psychologin und die Schwestern des häuslichen Pflegedienstes uns geraten haben, die beiden zu trennen, hat nicht nur praktische Gründe. Thaïs befindet sich in einem Stadium, in dem ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden hängt. Es kann geschehen, dass sie abends einschläft und am nächsten Morgen nicht mehr aufwacht. Gaspard weiß das, ohne dass wir es ihm sagen müssten. Intuitiv wacht er über sie. Er unterbricht seine Spiele, um nachzusehen, ob es ihr gut geht. Er schläft abends erst spät ein, weil er dem Geräusch der Geräte lauscht. Wenn er nachts einmal hinausmuss, prüft er immer, ob seine Schwester noch atmet.
Eines Morgens beim Frühstück fragte er plötzlich: »Papa,
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