Deine Schritte im Sand
MLD handelt (nicht alle Mediziner kennen diese sehr seltene Krankheit), beschreibt die Phasen der Verschlechterung und schildert den aktuellen Zustand von Thaïs. Er berichtet, dass das Kind nur noch palliativmedizinisch versorgt wird. Er erklärt, dass wir den unvermeidlichen Ausgang der Krankheit kennen, und unterstreicht gleich doppelt den Satz, dass wir sowohl eine Intubation als auch eine künstliche Beatmung von Thaïs grundsätzlich ablehnen. Des Weiteren erwähnt er unsere dringende Bitte, sofort informiert zu werden, sollte der Tod unserer Tochter unmittelbar bevorstehen. Der Brief schließt mit den Worten: »Ich bitte Sie, alle Maßnahmen zu ergreifen, um dem Kind den Durchbruchschmerz und jede Art von Qual zu ersparen.«
»Durchbruchschmerz« ist der einzige Begriff, den ich nicht verstehe. Der Rest ist klar. Der Arzt hat die Situation sehr deutlich beschrieben und unseren Entschluss getreulich weitergegeben. Über diese heikle Entscheidung haben Loïc und ich viel diskutiert, ehe wir sie nach bestem Wissen und Gewissen trafen. Jetzt begrenzt sie unsere Eingriffsmöglichkeiten und schränkt unsere Handlungsfähigkeit ein. Wir wollen Thaïs so lange wie möglich bei uns behalten, ohne jedoch ihr Leben um jeden Preis zu verlängern. Wir werden alles tun, damit sie nicht leidet, aber ihr Leben auch nicht verkürzen. Im Grunde haben wir uns vorgenommen, den natürlichen Gang der Ereignisse zu respektieren.
Der Notarzt versteht und akzeptiert unseren Entschluss. Er erklärt uns, was die Untersuchung ergeben hat.
»Thaïs befindet sich in einem äußerst kritischen Zustand. Die Ereignisse können uns jeden Augenblick überrollen – und zwar sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Wenn Sie es wünschen, bleiben wir bei Ihnen.«
Den Vorschlag nehmen wir dankend an; die Anwesenheit des Arztes beruhigt uns.
Trotz der ernsten Lage behalten alle einen kühlen Kopf. Die Besatzung des Notarztwagens nimmt uns die wichtigsten Maßnahmen ab. Die Pfleger bemühen sich, das Fieber zu senken und den Herzrhythmus zu verlangsamen. Sie verabreichen Medikamente, lesen Werte ab und überwachen den Zustand des Kindes. Loïc und ich bleiben ganz nah bei Thaïs, sprechen mit ihr und ermutigen sie, zu kämpfen. Und wir sagen ihr, dass wir sie immer lieben werden.
Nach zwei Stunden wird der Puls langsamer, und das Fieber weicht. Der Notarzt wartet noch ab, ob die Besserung von Dauer ist; schließlich kommen wir überein, dass er nicht länger zu bleiben braucht. Arzt und Pfleger machen sich auf den Weg. Zuvor jedoch lassen sie sich von uns versprechen, dass wir sofort wieder anrufen, falls es Thaïs schlechter gehen sollte. Ich begleite die Gruppe zur Tür. Als ich gerade abschließen will, dreht sich der Arzt noch einmal um.
»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Mut«, sagt er. »Zu dem, den ich im Zimmer der Kleinen beobachten konnte, und zu dem, den ich in diesem Brief gelesen habe.« Sichtlich berührt wendet er sich ab.
Am nächsten Morgen wacht Thaïs auf, als wäre nichts gewesen.
31. DEZEMBER. DIE LETZTEN MINUTEN des alten Jahres vergehen, eine nach der anderen. Ein neues Jahr steht in den Startlöchern – bereit, sich ins Ungewisse zu stürzen. Genau wie wir. Wir verbringen den Jahreswechsel mit Freunden und Familie, mit unseren engsten, unbeugsamsten, unentbehrlichsten Liebsten. Mit denen, die es als Einzige wagen, uns ein gutes neues Jahr zu wünschen.
Alle anderen bleiben lieber fern. Aus Angst, einen Fehler zu begehen oder etwas Verletzendes zu sagen. Manche Leute ziehen es vor zu schweigen und verfallen in eine verschämte Stummheit. Andere trauen sich, sind aber immer auf der Hut, um rechtzeitig einen Rückzieher zu machen. Sie stottern und stammeln. Zwischen ihren zusammengepressten Zähnen erahnen wir abgewägte, wiedergekäute Worte. Schwer verdauliche Worte. Sie hoffen, »dass, wenn möglich, im nächsten Jahr alles wieder besser wird«. Das Bessere ist der Feind des Guten. Und auch meiner.
Wenn ihr wüsstet … Am liebsten würde ich euch bitten – wenn nötig auch auf Knien –, uns ein gutes und glückliches Jahr zu wünschen. Euch, die ihr uns ständig eure Unterstützung anbietet; euch, die ihr euch ständig dafür entschuldigt, dass ihr uns unser Los nicht erleichtern könnt. Denn das wäre es, was uns an diesem Tag wirklich helfen würde: Helft uns, nicht die Hoffnung zu verlieren! Tut etwas, damit unser Vertrauen erhalten bleibt! Zwingt uns, positiv zu denken!
Was wir vor allem
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