Deine Seele in mir /
Mutter.
Wann immer sie einen Spruch las oder hörte, dessen Bedeutung sie ergriff, schrieb sie ihn dort hinein. Auch ihre eigenen Gedanken hatten Platz darin gefunden.
Meine Mutter war eine besondere Frau – immer darauf bedacht, ein möglichst guter Mensch zu sein. Sie verzichtete auf vieles, um anderen zu helfen. Sie arbeitete in Armenküchen und bei gemeinnützigen Veranstaltungen, wann immer sie Zeit dafür fand.
»Wir haben von Gott den Auftrag bekommen, die bestmögliche Version aus dieser Welt zu machen«, hatte sie mir immer wieder eingeschärft. Heute denke ich, dass diese Einstellung mich wohl sehr geprägt hat.
Gedankenverloren durchblättere ich das kleine Buch und schlage schließlich völlig willkürlich eine Seite darin auf.
In der wunderschön geschwungenen Handschrift meiner Mutter geschrieben, lese ich folgende Worte:
Wenn jemand wütend auf dich ist – jemand, auf dessen Freundschaft du nicht verzichten willst – dann lauf nicht davon. Geh auf ihn zu und bitte ihn um seine Hilfe. Er wird dir diesen Gefallen nicht ausschlagen. Er wird sich gebraucht und geliebt fühlen – eben wertvoll für dich –, und dieses Gefühl wird sein Herz erweichen und schließlich auch wieder öffnen.
Mit Tränen in den Augen klappe ich das Buch wieder zu.
»Danke, Mom!«
Wie ein Wegweiser deuten die Zeilen meiner Mutter in die richtige Richtung, und nun weiß ich genau, was ich zu tun habe.
Ich muss eine Weile unter meinem Bett kramen, bis ich finde, wonach ich gesucht habe: eine dünne, eingestaubte Mappe, die ich mir unter den Arm klemme und damit zurück zu den Kents fahre.
Tom öffnet die Tür. Sein Blick ist nun sehr viel weicher als zuvor. Dennoch, er scheint gekränkt und in gewisser Weise sogar enttäuscht zu sein.
»Hallo! Darf ich reinkommen?«, frage ich unsicher.
Sein Gesicht verzieht sich zu einem sanften Lächeln, als er die Tür bis zum Anschlag öffnet. »Es hätte mich schwer enttäuscht, wenn du jetzt weggerannt wärst. Gut, dass du wieder da bist.«
»Ich musste nur mal kurz durchatmen. Solange Amy hier ist, werdet ihr mich nicht los. Es sei denn, ihr gebt mir Hausverbot!«
Nun lacht er. »Komm schon rein, du Spinner!«
Ohne Umschweife komme ich direkt zum Punkt, noch während ich meine Jacke aufhänge. »Ich habe eine Bitte an dich.«
Tom sieht mich eindringlich an, sein Blick wirkt skeptisch. »Und zwar?«
»Können wir uns setzen?«
»Natürlich.«
Nebeneinander nehmen wir an dem großen Esstisch Platz.
Feierlich lege ich meine Mappe vor ihm ab. In ihr verbirgt sich ein lang gehüteter Schatz, auch wenn man das dieser verstaubten Hülle mit all den Kindermotiv-Aufklebern nicht wirklich ansieht.
»Was ist das?«, fragt Tom neugierig.
»Das beinhaltet meine Bitte an dich. Ich brauche deine Hilfe!«
Ich atme so tief durch, wie mein eingeschnürtes Herz es zulässt, dann öffne ich die Mappe und ziehe einige Kinderzeichnungen hervor. Sie stammen aus Amys und meiner Hand und sind weit über zwanzig Jahre alt. Dennoch sind sie heute so aktuell wie noch nie zuvor.
»Hier!« Ich reiche Tom eine der Zeichnungen, und er rückt seine Brille auf die Nasenspitze vor, um darüber hinwegblicken zu können. Eingehend betrachtet er das Bild.
»Das haben Amy und ich gemalt, als wir ungefähr acht Jahre alt waren. Wir hatten einen großen gemeinsamen Traum: ein Haus am See. Ein Holzhaus! Ich weiß nicht, wie viele Stunden wir damit verbracht haben, uns auszumalen, wie es sein würde, direkt am See zu leben. Und irgendwann begannen wir, all unsere Ideen aufzumalen.«
Ich reiche ihm weitere Bilder. Sie zeigen immer wieder das Haus. Die Seite, die zum See hinausgeht, ist komplett verglast. Von der überdachten Veranda, die das gesamte Haus umgibt, führt ein schmaler Steg auf den See, und an einem Pflock dieses Steges ist ein kleines rotes Boot befestigt.
»Natürlich ist das alles sehr kindlich gemalt, aber … Ich möchte, dass du uns dieses Haus baust.«
»Euch?«, fragt Tom und blickt mich über seine Brille hinweg verwundert an.
Ich nicke ohne das geringste Zögern. »Ja, uns! Amy hat eingewilligt, meine Frau zu werden. Sie ist erwachsen. Auch wenn sie es momentan nicht tun kann, so war sie bis vor ein paar Wochen noch in der Lage, ihren Willen zu äußern und … sie wollte mit mir zusammen sein – ebenso wie ich mit ihr.«
Ich erwarte fast schon den nächsten Wutanfall, doch Tom blickt stumm auf die Bilder vor sich und schließlich – ich traue meinen Augen kaum – nickt er
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