Deine Seele in mir /
paar Meilen weiter vermutlich in unseren See mündet. Eine schmale Holzbrücke führt darüber. Wir laufen genau auf sie zu. Die Sonnenstrahlen brechen sich im Wasser und zerschellen zu unzähligen Funken, die sich widerspiegeln und über die Blätter der vordersten Bäume tanzen.
Warum muss es eigentlich immer ein Wald sein?, frage ich mich.
Es gab Zeiten, in denen ich Wälder liebte. Ihren Geruch und das Gefühl von weichem Moos unter meinen Füßen.
»Mein Stiefvater ...«, beginnt Wilson. »Er hat mich immer zusehen lassen. Meine Schwester war blond, wie deine kleine Freundin. Überhaupt sah sie ihr zum Verwechseln ähnlich. Ich habe ihn jahrelang dafür gehasst, doch als ich dieses Mädchen zum ersten Mal sah – nackt in dem Bach –, wurde mir klar, warum er es getan hatte. Sie hat ihn einfach zu sehr gereizt.«
Die Schönheit der Landschaft rückt in den Hintergrund; mir wird speiübel. Wilson sinniert weiter vor sich hin. »Es ist verrückt, aber als du an diesem Baum lehntest, sah ich mich selbst.« Er lacht. »
Ein
schwacher Moment. Verdammte Scheiße!«
Ich schlucke Magensäure, die mir bitter die Speiseröhre hochgekommen ist. Meine Gedanken tragen mich zu meinen Eltern und in die Tage meiner unbeschwerten Kindheit zurück. Schnell gewinnt jedoch eine andere Überlegung die Macht über mich.
Ich darf nicht sterben! Was soll sonst aus Amy werden? Dieses Scheusal darf ihr nicht zu nahe kommen. Nie wieder.
Und wie könnte ich sterben – jetzt, wo ich doch weiß, dass dieser Kerl eine tickende Zeitbombe ist, die kurz vor der nächsten Explosion steht. Nun, da ich selbst bald Vater einer Tochter werden soll, bringt mich dieser Gedanke fast um den Verstand.
Nein, ich muss kämpfen!
Am Rande meiner Wahrnehmung höre ich zunächst ein metallenes Scheppern, dann erst das Dröhnen des dazugehörigen Motors. Marys Mini!
Ich wiege mich im warmen Licht der Sonne. Es dauert ein wenig, bis ich es schaffe, all meine Gedanken auf Matty zu fokussieren, doch dann sehe ich ihn. Er ist im Garten mit Tante Diane.
Er muss mich sehr schnell gefunden haben. Ich konzentriere mich, so tief ich nur kann. Ein Sog erfasst mich und zieht mich hinab. Immer weiter hinab, in eine nie gekannte Tiefe. In eine Tiefe, die nicht von dieser Welt ist. Ich falle, angstfrei und vertrauend, denn ich weiß, dass Matt auf mich wartet, um mich aufzufangen. Ich falle ihm entgegen.
Da ist er schon, direkt vor mir. Ich selbst stehe nach wie vor im Türrahmen der Gästetoilette. Wo ist Wilson?
Matt beugt sich zu mir vor und spricht mich an, doch ich blicke durch ihn hindurch. Er hebt mich auf seine starken Arme und packt mich in seinen Wagen.
Unter Tränen und ohne auch nur eine Rast einzulegen, fährt er mit mir bis zu meinem neuen Zuhause. Tom und Kristin empfangen ihn wütend und traurig. Ich verstehe das alles nicht.
Was ist passiert? Wie viel Zeit ist verstrichen? Warum kann Matt mich nicht zurückholen? Wo ist er? Und wo bin ich?
Ich muss zum Ende dieser Geschichte kommen. Muss erfahren, warum ich erst jetzt zurückkommen soll.
Warum ausgerechnet jetzt?
Panik erfasst mich.
Nur wenige Bilder nehme ich noch bewusst wahr, als ich durch die vergangenen, die versäumten Erlebnisse spule.
Ich sehe Matty an meinem Bett weinen. Meine Schwester Elena sitzt neben ihm, und ich frage mich, ob wirklich schon Ostern
ist.
Doch es geht noch weiter.
Ich sehe eine junge Frau, die mich anscheinend untersucht und Matt anschließend ein kleines Heft aushändigt. Fehlt mir etwas? Bin ich krank?
Matt steht auf einem großen Grundstück direkt am See. Es muss das für unser Haus sein, doch ich erkenne es kaum wieder. Die Bäume sind gerodet worden.
Meine Güte, wie lange ... ?
Da ist Matt schon wieder.
Er kniet über einem Mann – oh, mein Gott, es ist Wilson. Matt massiert ihn und scheint dabei in seine Visionen abzutauchen. Alles in mir will schreien, ihn warnen und zurückreißen, doch ich muss hilflos mit ansehen, wie er abdriftet.
Ich habe keine Möglichkeit mehr, ihn schonend auf das vorzubereiten, was er
mittlerweile
wohl bereits weiß. Matt sieht, was Wilson getan hat und erfährt, wer er ist.
Oh, Gott! Und ich bin nicht da gewesen.
Ich habe ihn wirklich allein gelassen, und er muss es – auf sich selbst gestellt – herausfinden.
Matt würgt Wilson. Eine leise Hoffnung keimt in mir auf, dass meine Erlösung – also Wilsons Tod – der Grund für meine Rückkehr sein könne.
Doch dann lässt Matt von ihm ab, erhebt sich und hastet
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