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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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obwohl ich verletzt bin und um einiges schmächtiger als er, verfüge ich plötzlich über deutlich mehr Kraft. Es ist die gebündelte Kraft meiner verlorenen Jahre.
Unserer
verlorenen Jahre.
    »Wie heißt sie?«, schreie ich ihn an.
    »Wer?«, krächzt er.
    »Die kleine Tochter deiner Nachbarn. Wie heißt sie?«
    Wilson blickt mit einer Mischung aus blankem Entsetzen und schamloser Überheblichkeit zu mir auf. Wie er das hinbekommt, ist mir ein Rätsel. Allerdings lähmt ihn der Schock erneut für den Bruchteil einer Sekunde. Das reicht, um meine Position zu optimieren. Ich knie mich über ihn, boxe ihm ins Gesicht.
    »Wie heißt sie?«
    Wilsons Augen werden zu schmalen Schlitzen, als sich meine Hände um seinen Hals legen.
    »Sie heißt Lindsey, ist sieben Jahre alt, und sie verdient es genauso wie deine kleine Freundin damals.«
    Seine Worte treffen mich härter als der gedämpfte Faustschlag in die Magengrube, den er mir nun verpasst.
    Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht spucken, doch selbst in dieser Situation lässt meine gute Kinderstube das nicht zu.
    »Niemand verdient ein Monster wie dich. Schon gar kein Kind.«
    Wilson windet sich und versetzt mir einen schmerzhaften Tritt in den Unterleib. Reflexartig verpasse ich ihm einen Kinnhaken, der ihn für einen kurzen Moment lahmlegt. Dann jedoch schüttelt er sich und streckt seine Hände nach mir aus.
    Er versucht doch tatsächlich, mir an die Kehle zu gehen. Erneut.
    Die alten Erinnerungen quellen in mir hoch, vermischen sich mit der aufgestauten Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit der vergangenen Jahrzehnte und schwappen schließlich über.
    Schlagartig wird mir die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst: Dieser Kampf wird eine Entscheidung bringen, so oder so.
    Nein, nicht so oder so! So!
    »Unser Ende!«,
hatte Amy gesagt.
    Noch einmal höre ich ihre süße Stimme deutlich in meinen Erinnerungen, und plötzlich erscheinen mir ihre Worte flehend.
    Sie entfesseln meinen Hass. Nun gibt es kein Zurück mehr.
    Oh ja, ich hasse diesen Mann – für alles, was er getan hat. Für das, was er Amy angetan hat und was er in mir zerstört hat. Dass er uns getrennt hat. Zweimal. Uns, die wir doch bedingungslos zusammengehören. Ich hasse ihn für das ganze Leid, das er auch nach dem heutigen Tag noch über diese Familie bringen wird. Ich hasse ihn für die schlaflosen Nächte, die seine ahnungslose Frau seinetwegen noch durchzustehen haben wird und für ihre schrecklichen Phantasien, in denen Wilson und ihre hübsche blonde Tochter die Hauptrollen spielen werden. Ich hasse Wilson für all die Alpträume, die er verursacht hat und weiterhin verursachen wird. Ich hasse ihn für seine eiskalten blauen Augen, mit denen er Amy so sehr erschreckt hat und in denen ich auch jetzt nicht mal einen kleinen Funken von Reue erkennen kann. Ich hasse ihn für seine Scheinheiligkeit und für das, was er plant, dem kleinen Mädchen seiner Nachbarn anzutun.
    Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!
    Ein nie gekannter Zustand völliger Hemmungslosigkeit erfasst mich. Aus blutunterlaufenen Augen blickt mir mein inneres Ich entgegen. Ein Matt, der mir völlig fremd ist.
    Entschlossen und unaufhaltsam.
    Ich sehe die Vene in Wilsons Hals, spüre das Pulsieren seines Herzens, das Rauschen seines Blutes. Dann höre ich mich selbst. Schreiend, wütend, laut und entfesselt. Ein wildes Tier, in dem ich mich verliere.
    Das Pulsieren wird schwächer, das Rauschen verebbt, mein Schrei verstummt.
    Als ich wieder zu mir komme, tut Wilson gerade seinen letzten Japser unter meinen erbarmungslos verkrampften Händen.
    Sein Gesichtsausdruck wirkt wie eine Maske. Starr, aufgesetzt – auf bizarre Weise sogar erlöst. Er zuckt noch einige Male, doch dann weicht alle Anspannung aus seinem Körper. Seine Augen sind nun leer, ohne jeden Ausdruck. Seelenlos.
    Ich kann mich nicht länger aufrecht halten; völlig erschöpft breche ich über ihm zusammen.
    »Oh, mein Gott, Matt! Komm, schnell weg von hier.«
    Es ist Mary. Wie aus dem Nichts taucht sie hinter mir auf.
    Sie scheint dem Anblick des leblosen Körpers unter mir nicht zu trauen, oder sie realisiert noch nicht, was hier soeben geschehen ist – was ich getan habe.
    Schnell legt sie einen meiner Arme über ihre Schultern, umschlingt meine Hüfte und versucht tatsächlich, mir aufzuhelfen.
    Diese Geste ist so hoffnungslos und anrührend zugleich, dass ich sogar in dieser schrecklichen Situation – noch in das tote Gesicht meines Peinigers blickend

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