Deine Seele in mir /
los.
»Ich habe nicht nachgedacht. Es tut mir leid«, murmelt sie mit einem entschuldigenden Blick auf Tom. Dann wendet sie sich mir zu und sieht mich eindringlich an, die Augenbrauen tief zusammengezogen.
»Warum hast du mich von ihr weggerissen?«
Diese Frage klingt wie ein Vorwurf in meinen Ohren, also beeile ich mich mit meiner Entschuldigung. »Es tut mir leid. Es war ... intuitiv. Ich hätte dir helfen ...«
»Nein«, fällt sie mir ins Wort; ihr Blick durchbohrt mich förmlich. »Normalerweise haben Tom und ich sie immer festgehalten, wenn sie so einen Schreikrampf hatte. Das war die Empfehlung der Ärzte. Ihr würde in solchen Situationen die Wahrnehmung körperlicher Begrenzungen fehlen. Darum würden die Anfälle am schnellsten vorübergehen, wenn man sie festhielte, so sagten sie.« Kristin klingt erschöpft, und so sieht sie auch aus.
Dennoch lässt sie mit ihrem prüfenden Blick nicht für eine Sekunde von mir ab. Auch nicht, als Tom für sie fortfährt.
»Das endete meistens so, dass Julie bis zur absoluten Erschöpfung schrie«, berichtet er. »Einige Male ist sie sogar für kurze Zeit ohnmächtig geworden. Trotzdem – wir haben sie festgehalten, weil wir dachten, dass es das Beste für sie sei. Sie komplett loszulassen ... auf diese Idee sind wir nie gekommen.«
Tom schüttelt gedankenverloren den Kopf, ohne den Blick von seiner Tochter zu nehmen. Für einige Minuten herrscht völlige Stille. Die Ereignisse des Abends stehen unverarbeitet zwischen uns im Raum, die Anspannung ist nahezu greifbar.
Als Erste schafft es Kristin, sich aus dieser Starre zu lösen. Sie greift nach dem rosa Strickpullover mit dem Bärenmotiv, um ihre Tochter endlich wieder anzuziehen.
»Warum hat Julie so geschrien?«, höre ich mich fragen – woher auch immer diese Worte kommen.
»Sie hasst es, wenn sich jemand so dicht über sie beugt, während sie auf dem Rücken liegt.«
Kristin zuckt mit den Schultern. Sogar die Art, wie sie den Pullover aufkrempelt, wirkt elegant. »Warum, wissen wir nicht, aber sie hat das schon gehasst, als sie noch ein Baby war. Als wir sie noch wickeln mussten, waren solche Schreikrämpfe an der Tagesordnung. Es hat uns fast drei Jahre gekostet, bis wir herausgefunden hatten, worauf sie so panisch reagierte. Ich war vorhin noch zu sehr in meine Gedanken vertieft, sonst wäre mir das nie passiert«, fügt sie leise hinzu. Wohl mehr zu sich selbst als an uns gerichtet.
Dann hält sie in ihren Bewegungen inne. »Sie hat tatsächlich deinen Namen gesagt«, flüstert sie. »... Danke, Matt, hat sie gesagt. Ich habe es genau gehört.«
Einige Sekunden verharrt sie still in ihrer Verwunderung, dann schüttelt sie den Kopf, als wolle sie sich zur Besinnung rufen, und beugt sich vorsichtig zu Julie herab, um ihr den Pullover über den Kopf zu ziehen.
»Kristin, warte!«, höre ich mich rufen, noch ehe ich realisiere, was ich überhaupt sagen will. Verdammt, seit wann rede ich, ohne vorher nachzudenken? Gut,
reden
ist komplett übertrieben. Das, was nun über meine Lippen kommt, ist nicht mehr als ein holpriges Gestammel. »Ähm, ... hast du nicht, wie soll ich das sagen ... etwas ... na ja, ... etwas Modischeres für sie?«
Kristin blickt verdutzt auf den Pullover in ihren Händen. Aus den Augenwinkeln heraus kann ich erkennen, dass auch Tom den Kopf schief legt.
»Seid mir nicht böse, aber ...« Ich zögere. Steht es mir denn überhaupt zu, mich einzumischen?
Kristin jedoch hat den Pulli bereits in ihren Schoß sinken lassen und sieht mich nun an.
»Ja? ... Sag es ruhig«, ermutigt sie mich. Ihre Stimme klingt gewohnt aufrichtig; ich kann keinen versteckten Groll in ihrem Tonfall erkennen, also fasse ich mir ein Herz.
»Na ja, Julie ist eine hübsche junge Frau. Wenn sie sich mitteilen könnte ... Ich bin mir sicher, sie würde sich bestimmt ... recht modisch kleiden.«
Meine Sätze kommen noch immer stockend. Wahrscheinlich bin ich wieder einmal knallrot. Kristin und Tom tauschen einen langen Blick aus. Dann scheint sich Tom plötzlich ein Lachen verkneifen zu müssen, und Kristin lächelt mich etwas verlegen an.
»Matt ... Ich war so lange nicht mehr unter Leuten. Was tragen die Mädchen von heute denn so?«, fragt sie mit einem treuherzigen Blick.
Ein wenig überrumpelt zucke ich mit den Schultern und schaue auf Julies hübsches Gesicht herab. »Ich bin auch nicht gerade ein Experte, aber ... Rot ist eine Farbe, die ihr sicherlich gut stehen würde. So etwas wie eine schlichte
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