Deine Seele in mir /
Jacke über das Pyjamaoberteil, streift Turnschuhe über seine nackten Füße und stapft vor mir in den schneebedeckten Garten.
Er zeigt auf das kleine Dachfenster des Raumes, in dem sich Amy befindet. Mit erhobenem Blick diskutieren wir eine Weile. Tom reibt über sein unrasiertes Kinn.
»Meinst du wirklich, du passt durch das Fenster, Matt? Es ist ziemlich klein.«
»Das klappt schon«, erkläre ich zuversichtlich. Nur gut, dass es ein abschließbares Fenster ist. So kann ich einsteigen, ohne etwas zu zerstören.
»Sei vorsichtig, Junge«, ruft Tom mir zu, als ich über die lange Leiter auf das Dach steige. Doch mit Höhe habe ich keine Probleme.
Klettern war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen, als ich noch ein kleiner Junge war, und es gab nur eine, die es mit mir hatte aufnehmen können.
Ohne Schwierigkeiten steige ich auf dem Dach empor bis zu dem – wirklich sehr schmalen – Fenster, durch welches ich mich nur schwerlich quetschen kann.
Kristin hatte recht, Amy blockiert die Tür. Zusammengekauert, ohne Decke, liegt sie auf dem kühlen Parkettboden und schläft. Den Grund für ihre Müdigkeit erspähe ich nur einen Augenblick später.
Dies ist der Raum, in dem Amys Staffelei steht; hier kommt sie hin, wenn sie sich künstlerisch betätigt. Auch in dieser Nacht hat sie gemalt. Allerdings nicht das übliche Motiv. Stattdessen hat sie mit Ölfarben ein unverkennbares Portrait gemalt. Von der aufgespannten Leinwand blickt mir in überdimensionaler Größe mein eigenes Gesicht entgegen – so treffend und detailgetreu, dass es mir den Atem verschlägt.
»Amy, was hast du ...?« Langsam gehe ich zu dem Bild. Meine Fingerspitzen gleiten über die perfekt herausgearbeiteten Konturen dieses Gesichtes. Meines Gesichtes.
Zum ersten Mal sehe ich mich selbst aus der Perspektive eines anderen Menschen, und das ist durchaus interessant.
Meinen Blick, so wie Amy ihn erfasst hat, würde ich als liebevoll beschreiben – etwas schüchtern vielleicht –, mein Lächeln als schmerzlich. Ja, ich befürchte, dass sie mich absolut treffend gemalt hat.
»Matt, ist alles in Ordnung?« Kristins Ruf bringt mich zur Besinnung.
»Ja, alles klar«, erwidere ich und hebe die schlafende Amy in meine Arme. Ihr Körper ist wirklich bereits ziemlich kalt geworden, doch als die Tür aufgeht, steht Kristin schon mit einer Decke bereit.
»Na, Schatz, hast du wieder gemalt?«, flüstert sie Amy zu und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. »Bald kann ich eine Galerie aufmachen. Eine ganze Ausstellung mit einem einzigen Motiv.«
»Nein«, erwidere ich, während ich Amy vorsichtig in ihrem Bett ablege und die Bettdecke um ihren Körper herum andrücke. Dann wende ich mich Kristin zu.
»Nicht
ein
Motiv ... Seit heute sind es zwei.«
Nur Sekunden später stehen auch Tom und Kristin vor der Staffelei. »Das ist wunderschön.« Immer wieder fährt Kristin über die getrocknete Ölfarbe. »Das bist wirklich du. Wie du leibst und lebst, Matt.«
Toms Blick birgt viele Emotionen zugleich.
Ehrfurcht, Stolz, aber auch eine Spur von Wehmut und Angst meine ich zu erkennen. Ich nicke verlegen. »Amy hat immer schon gern gemalt. Und zwar sehr gut. Ihr habt die Bilder gesehen, die sie mir geschenkt hat. Ich erinnere mich, dass wir in der ersten Klasse eine Obstschale malen sollten. Meine sah aus wie ein breit gezogenes U, gefüllt mit zweifelhaften Farbklecksen, die unsere Lehrerin gütigerweise vorgab, als Obst zu erkennen. Die Bilder der anderen Kinder sahen ähnlich aus. Nur Amys Schale war anders. Sie hatte sie schon damals perfekt perspektivisch gemalt. Miss Huggins hat sich vor lauter Begeisterung kaum noch eingekriegt.« Wieder eine süße Erinnerung, die mir ein kurzes Lächeln über das Gesicht treibt.
»Dass sie dieses Bild von dir gemalt hat, beweist so viel«, wispert Kristin. »Es zeigt doch, dass sie in der Lage ist, ihre festgefahrenen Gewohnheiten aufzugeben und auch weiter zu gehen. Wenn wir sie nur verstehen.«
»Du meinst, nun – da wir wissen, was uns ihr erstes Motiv sagen sollte – versucht sie, durch andere Bilder zu kommunizieren?«, frage ich.
Kristin zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber es kommt mir so vor.«
Tom betrachtet noch immer das Portrait. »Warum hat Amy dein Gesicht in diesen Brauntönen gemalt und nur die Narbe über deiner Schläfe farblich hervorgehoben?«
Ich lasse meinen Blick zu der schmalen Linie wandern. Er hat recht. Das Rot ist so blass, dass es mir bisher nicht
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