Deine Seele in mir /
sie.
»Gut. Ich hole dich rein, wenn ich geduscht habe«, bestimme ich und schließe einfach die Tür vor ihrer Nase.
»So ein Quatsch, Matt. Du ahnst ja gar nicht, wie oft ich dich schon nackt gesehen habe.«
»Lalalaaaa«, singe ich laut und widerstehe nur knapp der Versuchung, mir wie ein Fünfjähriger die Ohren zuzuhalten. »Ich will das gar nicht hören. Ich gehe jetzt duschen, und dann öffne ich die Tür wieder, basta. Zähne putzen können wir meinetwegen zusammen.«
Das Letzte, was ich höre, bevor das rauschende Wasser in meinen Ohren dröhnt, ist ihr Lachen. Ungehemmt und frei. So, wie ich es schon immer liebte.
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XI. Kapitel
W ow, Matty, sieh nur. Alles ist weiß, egal, wo man auch hinsieht. Das ist wunderschön, nicht wahr?« Es ist Amys erster Schnee. Zumindest in diesem Ausmaß. Die Winter unserer Kindheit waren kurz und mild. Wenn Schnee fiel, schmolz er, bevor man seinen Schlitten geholt hatte. Warum wir überhaupt Schlitten besessen haben, ist mir bis heute ein Rätsel.
Nun sitzt Amy neben mir auf dem Beifahrersitz meines alten Autos und klebt förmlich an der Scheibe des Seitenfensters.
»Weißt du noch, wir haben immer davon geträumt, einmal zusammen durch den Schnee zu laufen und Eisengel zu machen.«
»Schneeengel«, korrigiere ich.
»Ja, richtig, Schneeengel. Jetzt können wir das! Ist das nicht verrückt? ... Guck doch, die Äste der Bäume sehen aus, als hätte jemand Puderzucker drübergestreut.«
Ihre Euphorie lässt mich grinsen, als mir bewusst wird, dass mir diese Autofahrt wahrscheinlich nur eine leise Ahnung von dem gibt, was in nächster Zeit auf mich zukommen wird. Amy ist in vielerlei Hinsicht, ob ihr das nun bewusst ist oder nicht, noch so unerfahren wie ein neunjähriges Mädchen. Diesen kindlichen Charme hat sie sich bewahrt. Natürlich ist sie erwachsen, doch man merkt, dass sie auf eine völlig andere, eigene Art und Weise herangewachsen ist. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt war ich, ihre Erfahrungen hat sie nicht erlebt, sondern nur beobachtet.
Durch deine Augen
, klingt ihre Stimme in mir wider.
Noch bevor ich meinen Gedanken zu Ende bringen kann, scheint er auf Amy übergesprungen zu sein.
»Hm. Die ganzen Jahre über habe ich immer nur dich gesehen. Ich sah, dass bei dir die Winter kalt und frostig waren, und natürlich sah ich auch den Schnee, aber das hier ... Ich kann es dir nicht erklären. Das ist um so viel besser.« Sie grübelt nur kurz, dann startet sie doch einen Erklärungsversuch. Sie wäre nicht Amy, wenn sie das nicht täte.
»Stell dir vor, du siehst Eindrücke eines Frühlings im Fernsehen oder auf Bildern. Du siehst die Wiesen, auf denen wilde Blumen wachsen und weiß blühende Bäume. Du siehst die Schwärme der heimkehrenden Zugvögel. Sogar den Tau am Morgen und die Sonne, die das Gras langsam trocknet. Und du glaubst, du bist gut über den Frühling informiert. Doch du weißt gar nichts, bis du diese Blumen nicht zum ersten Mal selbst gerochen und unter einem blühenden Kirschbaum gestanden hast, dessen Äste so lang sind, dass der Himmel ein einziges Blütenmeer zu sein scheint. Du musst den Tau schmecken und die wärmende Sonne auf deiner Haut spüren. Du musst das verheißungsvolle Geschrei der Zugvögel hören und die Freude fühlen, die ihre Rückkehr in dir auslöst. Und das feuchte Gras unter deinen Füßen
spüren
, wenn du über die Wiesen läufst. Erst wenn du all das erlebt hast, weißt du, was den Frühling wirklich ausmacht.«
Amys Worte hinterlassen ein undefinierbares Kribbeln in meinem Bauch und eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Ich weiß genau, was sie meint. »Kannst du erahnen, wie viel mir in meinem Leben gefehlt hat?«, fragt sie traurig.
Noch zu stark von ihrem Monolog erfasst, ist mir ihr abrupter Stimmungswandel schlicht entgangen. Ich nicke stumm, doch es ist eine Lüge. Nicht mal die leiseste Ahnung habe ich, was sie bisher verpasst hat. Mir wird bewusst, dass ihr Zustand – den alle Außenstehenden als Autismus werteten, und all die Entbehrungen, die damit verbunden waren – dass all das der Preis dafür war, um weiterhin bei mir bleiben zu können.
Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich schulde ihr so viel. Auf der schneebedeckten Fahrbahn greifen die Bremsen nicht direkt, als ich mit voller Kraft das Pedal durchtrete. Viel zu unsanft wird Amy in ihren Gurt gepresst. Erschrocken sieht sie mich an.
»Steig aus!«, kommandiere ich nur knapp, als sich mein alter Ford endlich
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