Deine Spuren im Sand
gesehen und dafür gesorgt, dass sie meinem Blick nicht auswich. »Papa kann ich nun nicht mehr fragen! Sag du es mir! Stimmt es, was die Leute getuschelt haben?«
Sie lächelte mich an, wie sie auch die Pflegerin anlächelte, die ihr Kissen aufgeschüttelt hatte. »Später«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. »Wenn du erwachsen bist.«
»Ich bin jetzt erwachsen, Mama! Sag’s mir! Bitte!«
»Später«, wiederholte sie, und ich wusste nicht einmal, ob sie begriffen hatte, was ich von ihr wissen wollte.
Resigniert legte ich ihr die Hände zurück in den Schoß. Egal, was sie mir sagen würde, ich konnte nicht wissen, ob es die Wahrheit war. Es hatte keinen Sinn mehr zu fragen. Mit ihrem »Später« schlug sie mir mitten ins Gesicht. So, wie sie mich früher geschlagen hatte, wenn ich ihr diese Frage stellte. Einmal – ein einziges Mal – hatte sie geantwortet: »Solange Papa lebt, kann ich es nicht sagen.«
Nun war er tot. Und die kleine Hoffnung, die ich nie ganz verloren hatte, lebte auch nicht mehr.
Danach sah ich meine Mutter nie wieder. Als sie starb, fuhr ich nicht zur Beerdigung nach Sylt. Nein, nicht noch einmal dieses Spießrutenlaufen! Nicht noch einmal der Presserummel am offenen Grab! Die Zeitungen hatten mich mit bösen Schlagzeilen dafür bestraft, dass ich eine schlechte Tochter war, aber ich hatte einfach still gehalten, abgewartet, bis neue Schlagzeilen die alten verdrängten, und danach hatte die Frage, deren Beantwortung mir so wichtig gewesen war, mehr und mehr an Bedeutung verloren …
Der alte Mann fiel mir auf, als ich in einen schmalen Weg gehen wollte, an dessen Ende ich das Grab meiner Eltern vermutete. Ein großer schlanker Mann, mit dichten weißen Haaren und aufrechter Haltung. Er hielt eine kleine Harke in der linken Hand, in der rechten eine Gießkanne. Mit einer weiten, ausholenden Bewegung goss er die Blumen, ohne sich über das Grab zu neigen, so, als wollte er es segnen.
Ich verzichtete darauf, in den Weg einzubiegen, und ging weiter. Bei meiner ersten Begegnung mit dem Grab meiner Eltern wollte ich keine Zeugen, kein freundliches »Moin!« und keine gut gemeinten Fragen. Ich wollte allein sein mit dem Grab und niemandem erklären müssen, warum es so verwahrlost war, warum ich mich nie darum gekümmert hatte, warum ich nicht mehr getan hatte, als einen teuren Grabstein zu bestellen.
Ich bummelte weiter, blieb stehen, drehte mich um, betrachtete die Kirche. So, wie es die Touristen taten, die nach Keitum kamen. Aber es war, als ließe sich der alte Mann nicht täuschen. Bevor er die Gießkanne an ihren Platz neben der Wasserstelle zurücksetzte, warf er mir einen fragenden Blick zu. Erkannte er mich? Nein, das war unmöglich. Mein Publikum war jünger, dieser alte Mann gehörte nicht dazu. Und selbst wenn! Der Rezeptionist im Hotel Roth hatte mich nicht erkannt, die Verkäuferin in der Parfümerie nicht und der Buchhändler auch nicht. Warum also dieser alte Mann?
Ich wartete, bis er den Friedhof verlassen hatte, dann kehrte ich um und bog in den Weg ein, an dem ich kurz vorher vorbeigegangen war. Von einem Grab zum anderen ging ich, jedes von einer niedrigen Hecke umgeben, von einem Grabstein zum nächsten, entzifferte die Namen, ließ mich auf Erinnerungen ein, ging weiter. Kein einziges verwahrlostes Grab war dabei, alle waren sie sorgsam bepflanzt worden, die Grabsteine gescheuert, die Buchstaben darauf blank geputzt, so dass alle Namen gut zu lesen waren. Ich hoffte plötzlich, dass die Namen meiner Eltern von Grünspan verzerrt und von wild wuchernden Ranken überdeckt sein würden. Die Scham wäre dann vielleicht ein wenig erträglicher.
Als ich etwa die Hälfte des Weges gegangen war, konnte ich erkennen, dass es bis zu seinem Ende kein einziges Grab gab, das von den Angehörigen vergessen worden war. Hatte mich die Erinnerung getäuscht? War ich in den falschen Weg eingebogen? Aber dann sah ich auf dem vorletzten Grab den Stein, den ich aus dem Katalog eines Bestatters ausgesucht hatte. Darauf den Namen Funke, darunter die Vornamen Hannes und Elisabeth. Der Stein glitzerte feucht, die goldenen Buchstaben leuchteten. Ich stand vor einem liebevoll gepflegten Grab. Vor dem Stein gab es ein Rund mit dicht gepflanzten Eisbegonien, neben dem Stein ein zierliches Rosenstämmchen, dunkler Bodendecker fasste das Grab ein. In einer Vase leuchteten tiefrote Tulpen. Von den Blättern des Bodendeckers perlte das Wasser, die Eisbegonien ließen ihre Blütenblätter
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