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Deine Spuren im Sand

Deine Spuren im Sand

Titel: Deine Spuren im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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höher war als in anderen Orten der Republik.
    Gemächlich fuhr ich die Keitumer Landstraße hinab. Rechts der kleine Geschenkartikelladen, den vor zwanzig Jahren die Eltern einer Schulfreundin betrieben. Die Schaufenster sahen so aus, als hätte sich an den Eigentumsverhältnissen bis heute nichts geändert. Dahinter eine Gaststätte, die der Frau unseres Klassenlehrers gehörte. In der Hauptsaison ließ er nur ungern Klassenarbeiten schreiben, weil er dann keine Zeit hatte, sie zu korrigieren. Meine Eltern waren niemals in diese Gaststätte gegangen, weil sie es unpassend fanden, von meinem Lehrer bedient zu werden.
    Das Radio dudelte einen uralten Schlager, der aus unerfindlichen Gründen wieder in die Charts geraten war. Ich summte mit, dann ging er unvermutet in einen scharfen Beat über, sechs, sieben, acht … »Then you’ll just have to stay at home.« Ich sang die zweite Stimme, die erste hatte ich oft genug ins Mikrofon gegrölt. »Bloody hell! Suit yourself! U-u-u!« Ein guter Titel. Nicht neu, aber immer noch gut. Er gehörte nach wie vor zu meinen Zugaben.
    Ich fuhr immer langsamer, und als das Verkehrsschild links nach Keitum wies, hielt ich sogar an, obwohl es keinen Grund dafür gab und der Fahrer des Wagens, der hinter mir stoppte, sich schrecklich darüber aufregte. Zaghaft setzte ich den Blinker und bog links ab, es konnte mir gar nicht langsam genug gehen. Ich staunte über den Kreisverkehr, den es vor zwanzig Jahren noch nicht gegeben hatte, und warf einen langen Blick in den Gurtstig, ehe ich aus dem Verkehrskreisel wieder herausbog, der St.-Severin-Kirche entgegen. Ihr roter unverputzter Turm stand viereckig da, robust, unprätentiös. Er hatte nichts Elegantes oder gen Himmel Strebendes, er sah aus, als wollte er nichts darstellen, was sein Gemäuer nicht zu sagen vermochte. An den Turm lehnte sich das weiß getünchte Kirchenschiff, obwohl mein Vater immer behauptet hatte, es sei genau umgekehrt, denn der Turm war zuletzt dem Kirchengebäude zugefügt worden, also musste er es sein, der sich anlehnte an das, was schon da gewesen war. Als kleines Mädchen hatte ich den Rautenfries bewundert, der sich unter der Dachkante der Kirche entlangzog. Wie die Kreuzstickerei eines Kindes sah es aus, das sich in einer Handarbeitsstunde damit abgequält hatte. Ein bescheidener, unvollkommener, aber hübscher Schmuck!
    Ich bog vor der Kirche rechts ab, stellte den Wagen auf dem unbefestigten Parkplatz am Kirchenweg ab, rückte meine Perücke zurecht und stieg aus. Zwei weitere Autos, mehrere Fahrräder und ein Motorrad waren dort geparkt worden, aber ihre Besitzer konnte ich nicht ausmachen. Vielleicht waren sie in der Kirche oder irgendwo auf dem Friedhof.
    Langsam, sehr langsam ging ich durch das Tor und blieb stehen. Ich wusste, warum ich zögerte. Feige war ich! Ja, ich hatte Angst davor, zum Grab meiner Eltern zu gehen. Ich war ja niemals dort gewesen. Einem Kind, das nie das Grab seiner Eltern besucht, geschieht es recht, dass es Angst hat, wenn es sich nach so vielen Jahren dort blicken lässt. Vielleicht hätte ich es auch an diesem Tag nicht getan, wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass dann die Angst noch viel schlimmer gewesen wäre. Nein, ich musste herkommen, etwas anderes durfte nicht sein. Und ich musste Fragen stellen, die niemand mehr beantworten konnte, mich entschuldigen für etwas, was bedeutungslos geworden war, erklären, was nicht mehr zu erklären war. Trotzdem war all das wichtig. Sehr wichtig!
    Auf einen Blumenstrauß hatte ich verzichtet, obwohl ich fand, dass es sich gehörte, nach so vielen Jahren Blumen aufs Grab zu legen. Aber als ich mir ausgemalt hatte, wie er sich ausnehmen würde, so ein frischer Strauß auf vertrocknetem Gras oder zwischen wucherndem Unkraut, hatte ich darauf verzichtet. Es wäre das Sichtbarmachen meiner sämtlichen Versäumnisse gewesen. Jeder hätte sehen können, dass eine Tochter zu Besuch gekommen war, die sich sonst nie um das Grab ihrer Eltern kümmerte. Ein frischer Strauß auf einem verwahrlosten Grab zeigte, dass es jemanden gab, der eigentlich dafür zu sorgen hatte, dass das Andenken einen würdigen Rahmen erhielt.
    Als ich in Westerland aufgebrochen war, hatte ich Angst gehabt, das Grab nicht zu finden, aber nachdem ich den Friedhof betreten hatte, wusste ich sofort, wohin ich mich zu wenden hatte. Ja, der Weg, auf dem ich dem Sarg meines Vaters gefolgt war, hatte sich mir eingeprägt. Meine Mutter hatte ich auf dem Weg zu ihrer letzten

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