Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
mit Kugelschreiber geschriebener Liebesbrief ist; seine krakelige Handschrift zieht sich über jeden Quadratzentimeter des Baumwollstoffs. Es ist eine Einladung, in Versen geschrieben, ihn in Manhattan zu treffen. Er ist ein genialer Dichter von Natur aus. Er schreibt vier, fünf, bis zu sechs Gedichte am Tag, manchmal ohne sie richtig zu schmecken, wie ein zwanghafter Esser.
Also treffen wir uns in New York. Niemand weiß, dass wir dort sind, niemand sieht uns. Wir halten uns nur im Zimmer auf. Ich denke an die geheimnisvolle Stimme, die man beim Liebemachen hat und die der geheimnisvollen Stimme ähnelt, die man hat, wenn man sich mit seinem Psychiater im gleichen Raum befindet. Niemand außer der einen, anwesenden Person wird sie jemals hören. Und hier und jetzt nun hören wir einander zu, verpacken unsere Stimmen aber in Berührungen, die vom Hotelzimmer vakuumdicht versiegelt werden, damit sie frisch bleiben, bis wir wieder zusammen atmen können.
Als er das Schweigen bricht, dann nur um zu sagen: »Ich will, dass du weißt, dass sich nichts ändern wird, wenn du schwanger bist, außer natürlich deine Kleidergröße.«
Und anschließend geht jeder von uns wieder seiner Wege.
Es gefällt ihm nicht, dass mein Gartentor nicht richtig schließt, und obwohl er Tausende von Meilen weit weg bei Dreharbeiten ist, schickt er Handwerker, die es reparieren. Er lässt ein Sicherheitsschloss an meiner Eingangstür anbringen. Es gefällt ihm nicht, dass ich nachts die Fenster nicht aufmachen kann, weil ich keine Fliegengitter habe, damit meine Katzen jederzeit hinauskönnen. Er schickt Handwerker, die mir Fliegengitter anbringen. Er kauft mir ein riesiges Buch von Flann O’Brien, das ich eigentlich lesen will, mit dem ich aber letztendlich nur eine Spinne erschlage.
Ich liege immer in der Badewanne (im Mutterleib), wenn seine gesimsten Texte surrend eintreffen, aus weiter Ferne, spät in der Nacht. Ich bade, trockne mich ab, gehe nach unten auf die Liege vor den deckenhohen Fenstern. Wir schicken uns ständig Textnachrichten hin und her. »Warte«, schreibe ich eines Nachts, »da ist ein Waschbär, der mich anstarrt.«
»Keine Angst, Baby! Das bin nur ich in einem Waschbärenkostüm. Ich wackle mal eben mit dem Schwanz, damit du weißt, dass ich es bin.« Ich habe es die ganze Zeit schon instinktiv gespürt: GH erinnert mich an meinen Vater.
Er sagt, dass wir zu meinem Geburtstag im Dezember zusammen nach Istanbul fliegen (eine Ausgeburt unserer Gypsy-Phantasien), und danach fliegen wir in die Staaten zurück und zeugen Pearl. Wenn er nicht davon redet, wie wir uns lieben, redet er über Pearl, und wenn er nicht über Pearl redet, redet er von unserem Trip nach Istanbul.
Eines Nachts habe ich ohne ersichtlichen Grund einen Anfall von Panik und befürchte, es sei vorbei. Aber ich beiße mir auf die Zunge und lege mein Handy unter das Kissen, damit ich nicht in Versuchung komme, ihn anzurufen. Ich will ihm gerade schreiben, als plötzlich mehrere Baby-Waschbären an meinem Fenster vorbeitapsen. Augenblicklich bin ich beruhigt. »Danke, GH !« Ich erzähle ihm nichts davon, danke ihm aber trotzdem. Die Waschbären kommen jeden Abend um zwanzig nach acht vorbei – so lange, bis GH wieder nach Hause kommt.
Der Fernseher mit dem leicht blaustichigen Bild läuft, als ich zu ihm komme. Er liegt auf dem Sofa, nackt und im Tiefschlaf. Ich betrachte ihn und reiße mich zusammen, um ihn nicht zu stören. Ich lenke mich ab, so gut ich kann. Es ist ein großes Haus. Ich schlendere von Zimmer zu Zimmer. Ich ziehe Schubladen auf, greife nach einer Postkarte aus Venedig. Aus den verschnörkelten Buchstaben auf der Rückseite schließe ich, dass sie von einer Frau ist, die er – wie ich instinktiv spüre – verletzt hat. Ich schleiche um die Postkarte herum. Ich will sie nicht mehr sehen. Ich gehe ins Bad und benutze einen ihrer Tampons. Er wurde von »der ersten Mrs de Winter« für mich hiergelassen. Nachdem ich GH weitere zwanzig Minuten Schlaf gegönnt habe, setze ich mich auf seine Brust. Er schlägt die Augen auf, lächelt und sagt: »Du hast mir gefehlt!«
Als ich am nächsten Morgen wieder bei mir zu Hause bin, entdecke ich die Nachricht wegen Dr. R. Sie wurde an eine E-Mail-Adresse geschickt, die ich nur selten öffne, und deshalb ist sie schon einige Tage alt.
24. Kapitel
GH versucht mich zu trösten, so gut er kann. Er schreibt mir Gedichte. Wir reden stundenlang. Und irgendwann hat er alles gesagt, was es zu sagen
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