Deiner Seele Grab: Kommissar Dühnforts sechster Fall (Ein Kommissar-Dühnfort-Krimi) (German Edition)
das so. Eines Abends stand er vor der Tür. Meine Mutter hat ihn hereingelassen. Kurz darauf klang Streit aus dem Arbeitszimmer. Die beiden schrien sich an. Mein Vater hat ihn an die frische Luft gesetzt, nachdem Kubisch ihm unterstellt hatte, den Verweis von der Schule einzig und allein deswegen eingefädelt zu haben, weil er ihn nicht mochte. Als ob mein Vater ihn zu diesem Einbruch gezwungen hätte. Eine ziemlich verdrehte Sicht in die Welt. Darüber hat sich mein Vater furchtbar aufgeregt.«
Kirsten wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Sie meinen doch nicht, dass Kubisch sich nach dreißig Jahren gerächt hat.«
»Er hat sich damals schon gerächt. Er hat das Auto zerkratzt, den Briefkasten mit Bauschaum zugekleistert und eines Nachts das Gartenhäuschen abgefackelt. Nachweisen konnte man ihm das allerdings nicht.«
»Hatte Kubisch später noch Kontakt zu Ihrem Vater?«
»Das glaube ich nicht. Davon hätte er mir sicher erzählt.«
Kirsten dankte für die Information und legte auf. Hatte das etwas zu bedeuten? Doch niemand rächte sich nach über dreißig Jahren. Außerdem hatte dieser Kubisch, der ja nicht Achim sein musste, damals schon Rache genommen, und einen Trittbrettfahrer schlossen sie ohnehin aus.
Sie steckte das Handy ein und setzte sich an den PC . Routinemäßig prüfte sie den Standort von Kathis Handy. Mit schlechtem Gewissen, wie immer. Sie tat das nur zu ihrer eigenen Beruhigung, nicht um ihre Tochter zu kontrollieren, und Kathi würde es nie erfahren. Ein blinkender Punkt erschien auf der Landkarte. Als sie erkannte, wo er sich befand, schoss ihr Adrenalinspiegel in die Höhe. All der Ärger, den sie über ein Jahr lang kontrolliert und im Zaum gehalten hatte, brach sich Bahn wie eine Urgewalt. Sie riss die Steppjacke vom Haken, griff sich die Autoschlüssel und stürmte aus dem Zimmer. Während der Fahrt würde sie Tino anrufen und sich abmelden. Jetzt fehlte ihr die Zeit. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Treppen hinunter und lief am Portal beinahe in ihn hinein.
»Kirsten, was ist los?«
»Sie haben Kathi entführt.«
»Wer? Etwa deine Schwiegereltern?«
»Wer sonst! Sie sind auf dem Weg nach Hohenlinden. Das werden sie büßen. Ich hetze ihnen ein SEK auf den Hals. Ich zeige sie an und zerre sie vor Gericht.« Sie bebte vor Zorn und kannte sich selbst nicht mehr. »Ich knall sie einfach ab. Dieses selbstgefällige Gesindel.«
Tinos Hand landete auf ihrer Schulter. »So kannst du nicht fahren. Du wirst am nächsten Baum landen. Ich komme mit.«
Er hatte recht. Sie nickte.
»Und deine Waffe bleibt hier.«
»Nein.«
»Doch. Sonst fahren wir nicht. Es sei denn, du atmest jetzt tief durch und beruhigst dich langsam wieder. Es gibt keinen Grund, sich verrückt zu machen. Du weißt, wo Kathi ist. Wir fahren jetzt dorthin und holen sie ab. Und dann ist es Zeit, dass sie die Wahrheit erfährt, sonst schaukelt sich dieser Zwist weiter auf, bis er vielleicht wirklich in einer Katastrophe endet. Kathi ist alt genug. Also, wie machen wir es?«
Tinos bedächtige Art, die ihr manchmal auf die Nerven ging, hatte offenbar auch ihre guten Seiten. Ihre Anspannung ließ nach. Sie atmete durch. »Geht schon wieder. Fahren wir.«
Die Stadt rauschte an ihr vorbei. Graue Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Bei Anzing begann es zu graupeln. Sie konnte Kathi nicht die Wahrheit sagen. Sie würde ihr nicht glauben, weil sie ihr nicht glauben wollte. Ihr Papa hatte sich erschossen. Er hatte sie verlassen. Ihre Welt würde ins Wanken geraten und in tausend Stücke zerbrechen. Es war besser, die Wahrheit nicht hören zu wollen und alle, die sie aussprachen, als Lügner abzustempeln. Dabei gab es natürlich Beweise. Alles war dokumentiert und fotografiert, die Spuren gesichert. Es gab einen Ermittlungsbericht. Doch all das konnte sie Kathi nicht zeigen. Sie war ein Kind!
Das Graupeln wurde heftiger. Bis sie Hohenlinden erreichten, war die Welt von einer dünnen weißen Schicht bedeckt. Felder und Wege, Dächer und der kleine Zwiebelturm der Kirche Mariä Heimsuchung, in der sie vor fünfzehn Jahren getraut worden war.
Sie wies Tino den Weg, bis sie schließlich vor dem Landhaus von Hannelore und Rüdiger standen. Das Tor zur Einfahrt war geschlossen, das ganze Areal wurde mit Videokameras überwacht. Es fehlten nur noch die Rottweiler, die man auf unliebsame Besucher hetzen konnte. Oder am besten gleich eine Selbstschussanlage.
»Alles in Ordnung?«
Sie sammelte sich.
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