Deiner Seele Grab: Kommissar Dühnforts sechster Fall (Ein Kommissar-Dühnfort-Krimi) (German Edition)
Achims perfide Idee gewesen. Allerdings hatte Judith vermutlich jeden Kriminalroman gelesen, den es gab.
Es war Clara nicht gelungen, sich ihren Vater in diesem Sarg vorzustellen. Sie sah ihn noch immer so vor sich wie am Samstagabend, als sie sich verabschiedet hatten und er fragte, ob sie zur Tanzstunde wollte. Fröhlich, zufrieden. Dieses Bild wollte sie sich bewahren.
Sie war ihren Eltern dankbar für das, was sie ihr mitgegeben hatten. Eine gute Erziehung und Vertrauen, eine Ausbildung und das an Liebe, wozu sie in der Lage gewesen waren. Es war eine andere Generation gewesen. Eine, die Gefühle nur schwer zeigen konnte und mit ihnen nicht hausieren ging.
Das war das Fundament, auf dem sie ihr Leben aufgebaut hatte. Auch wenn einiges darin schiefgelaufen war, wusste sie, wo sie stand. Achim war nur anderthalb Jahre älter als sie. Sie hatten dieselben Eltern gehabt, dieselbe Kindheit. Weshalb waren seine Erinnerungen völlig andere?
Paps war nicht das sadistische Arschloch gewesen, als das Achim ihn beschrieb. Nur eine Ohrfeige war ihr dann doch eingefallen. Die hatte er tatsächlich bekommen, nachdem er Paps bis zur Weißglut provoziert und ihn einen Nazi genannt hatte. Da musste er fünfzehn oder sechzehn gewesen sein.
Clara setzte sich an den Tisch. Sie hatte alle Fotoalben mit nach Prien genommen. Sie musste das wissen. Verdrängte sie? Hatte sie eine rosa Brille aufgehabt, all die Jahre?
Paps hatte Franzi nicht missbraucht. Ihr fiel nichts dazu ein. Keine Andeutung von Franzi. Kein heimliches nächtliches Huschen von Paps über den Flur. Keine Geste, kein Wort, einfach nichts, das sich in dieser Richtung interpretieren ließe.
Sie blätterte durch die Alben. Ihre Kindheit wurde wieder lebendig. So viele schöne Erinnerungen. Die Kubischs auf dem Fockenstein. Gipfelstürmerglück in den Augen. Die Hütte am See. Radtouren. Laternenumzüge. Faschingsfeste. Weihnachten. Geburtstage. Strahlende Gesichter. Schokoverschmierte Münder. Ballspiele, Skifahrten, Nachtwanderungen und Schneeballschlachten. Der erste Sommer am Meer. Franzi im Bikini auf Paps’ Schoß. Da musste sie sieben gewesen sein. Paps trug nur eine Badehose. Clara betrachtete das Bild. Deutete etwas auf Missbrauch hin? Doch sie sah nur einen Vater mit seiner Tochter. Beide lachten in die Kamera. Man müsste es Franzi doch ansehen. Und Paps auch. Oder nicht? Doch auf keinem einzigen Foto ließ sich etwas erspüren, das den Zweifel stützte. Diesen bösen Verdacht, der nun da war, sich in ihr ausbreitete wie ein Gift. Den Argwohn, den Achim mit seinen boshaften Worten gesät hatte. Paps ein Monster, das ein Monster gezeugt hatte? War es so?
Wenn sie diesem Misstrauen an ihre eigenen Erinnerungen nachgab, würde es ihre Kindheit nachträglich zerstören. Die Basis, auf der ihr Leben stand. Sie musste mit Klaus reden. Wusste er etwas? Vielleicht hatte Franzi Tagebuch geführt. Würde Klaus es ihr überlassen? Es gab nur einen Weg. Sie musste diesem Verdacht nachgehen und ihn ausräumen. Nicht jetzt sofort, aber bald. Wenn sie zurück in München war. Sie schlug die Alben zu und sah in die einbrechende Dunkelheit.
Bei Franzis Beisetzung am Nachmittag war ihr ein Mann aufgefallen, der sich abseits hielt. War er das gewesen, Franzis Lover? Vermutlich. Klaus hatte ihn nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Wer wusste das schon?
Es war dunkel geworden. Clara machte Licht und setzte sich wieder. Alles wegen dieses verdammten Schlüssels. Wäre das alles nicht geschehen, wenn sie diesen Schlüssel nicht bei sich getragen, wenn Achim ihn bei seinem Einbruch gefunden hätte? Könnten vier Menschen noch leben, wenn sie ihn einfach in die Schreibtischschublade gelegt hätte? Warum hatte sie das nicht getan?
Sie wusste es nicht. Paps hatte sie gebeten, den Schlüssel für sie aufzubewahren, mit einer so beunruhigenden Nachdrücklichkeit, dass sie ihn genommen und an ihren Schlüsselbund gehängt hatte. Völlig gedankenlos.
Clara rieb sich die Schläfen und vertrieb die aufsteigenden Kopfschmerzen. Es war nicht ihre Schuld. Jeder trug die Verantwortung für sein Handeln selbst, man konnte sie nicht anderen unterjubeln. Und man konnte Liebe nicht erzwingen, so wie Achim es immer wieder versucht hatte. Ein paar Zeilen von Nietzsche fielen ihr dazu ein. Die Forderung, geliebt zu werden, ist die größte der Anmaßungen. Genau auf den Punkt gebracht. Genau so war das. Liebe war ein Geschenk, das man nicht einfordern konnte.
Das Licht in Thores
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