Delete: Thriller (German Edition)
dem zuständigen Staatsanwalt. Er vertraut mir, auch wenn er vermutlich nicht viel davon hält, dass ein persönlich betroffener Kommissar die Ermittlungen leitet. Bitte halten Sie mich über jede Einzelheit auf dem Laufenden.«
»Selbstverständlich.«
»Viel Erfolg, Herr Eisenberg, in unser beider Interesse!«
»Danke, Herr Kayser!«
42.
Mina hatte bohrendes Kopfweh. Ihr Arm pochte dumpf. Doch sie durfte sich ihre Schmerzen nicht anmerken lassen. Also lächelte sie dümmlich, als Julius sie mit einem Frühstückstablett in den Händen weckte.
»Wie geht es dir?«
»Ich … fühl mich … so müde …«, lallte sie.
Er beobachtete sie aufmerksam und voller Misstrauen. Er wirkte verändert. Gestern hatte er noch Zuversicht und Selbstbewusstsein ausgestrahlt, fast schon Arroganz. Heute wirkte er bedrückt, geradezu deprimiert. Etwas war geschehen. Mina hütete sich, ihn danach zu fragen.
Schweigend saß er bei ihr, während sie die Cornflakes löffelte und altes Brot mit Marmelade aß. Statt Kaffee hatte er ihr ein Glas Milch gebracht. Als sie aufgegessen hatte, legte sie sich unaufgefordert wieder hin, schloss die Augen und bemühte sich, regelmäßig zu atmen.
Er blieb einen Moment sitzen und beobachtete sie. Dann räumte er das Geschirr zusammen und trug das Tablett nach oben. Sie wartete, bis das inzwischen vertraute Geräusch des Zahlenschlosses verklungen war. Dann erhob sie sich und hockte sich vor das Regal.
In der untersten Reihe standen alte Ordner und Kartons mit Unterlagen. Vorsichtig hob sie den Deckel des zweiten Kartons von links ab und nahm einen Stapel Zettel heraus, bis zu der Markierung, die sie beim letzten Mal hinterlassen hatte. Sie musste binnen Sekunden in der Lage sein, die Unterlagen zurückzulegen, den Deckel zu schließen und sich auf der Matratze schlafend zu stellen.
Es war eine verzweifelte Aktion. Die Chance, auf diese Weise zu fliehen, war verschwindend gering, das Risiko, erwischt und bestraft zu werden, umso größer. Doch was hätte sie sonst tun sollen? Warten, bis Julius irgendwann wieder die Nerven verlor und sie einfach abknallte, so wie die anderen?
Die massive Stahltür, für einen Bombenangriff konstruiert, würde sie niemals gewaltsam aufbekommen. Allein der Versuch würde ihn auf sie aufmerksam machen und ihm zeigen, dass sie seine Drogen nicht nahm. Ihre einzige Chance bestand darin, die Kombination für das Türschloss zu erraten und in einem unbeobachteten Moment zu entwischen.
Sie hatte lange darüber nachgedacht. Zunächst war ihr das völlig aussichtslos erschienen. Acht Stellen, hundert Millionen Möglichkeiten. Doch dann war ihr in einem Geistesblitz klar geworden, dass acht Stellen genauso viele Ziffern waren, wie man brauchte, um ein beliebiges Datum darzustellen.
Aus ihrem Studium wusste sie, dass die meisten Sicherheitsprobleme nicht durch unzureichende technische Möglichkeiten entstanden, sondern durch die Unfähigkeit der User, sich komplizierte Passwörter zu merken. Deshalb neigten sie dazu, Schlüssel zu verwenden, die leicht zu erraten waren. Immer noch gab es viele, die Codes wie »Passwort« oder »12 3 456« benutzten. Tatsächlich hatte sie als Erstes »1 2 34 5 678« und »2 3 45 6 789« ausprobiert, als sie sicher war, dass ihr Peiniger aus dem Haus war. Dann die Zahlenfolgen rückwärts sowie alle acht Ziffern jeweils identisch.
Doch so leicht machte es ihr Julius nicht. Paranoid wie er war, konnte es gut sein, dass er eine völlig zufällige Zahlenfolge verwendete. Dann hatte sie keine Chance. Also blieb ihr nur, nach einem Datum zu suchen, das für ihn eine Bedeutung hatte, und zu hoffen, dass er dieses Datum als Kombination eingestellt hatte.
Es gab eine ganze Reihe möglicher Kandidaten für ein Datum, das in Julius’ Leben eine wichtige Rolle spielte. Sein Geburtstag. Die Geburtstage seiner Eltern und Großeltern. Deren Todestage.
Mina wusste inzwischen, dass er schon seit Längerem allein in diesem Haus lebte, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Beide waren an Krebs gestorben. In einer sentimentalen Minute hatte er ihr davon erzählt. Die Lebensdaten hatte er natürlich nicht erwähnt. Ihre schwache Hoffnung war, in den alten Unterlagen irgendwelche Hinweise darauf zu finden.
Bisher war die Suche allerdings vergeblich gewesen. Die Kästen enthielten NVA-Dokumente aus den Sechziger- und Siebzigerjahren – Einsatzbefehle, Protokolle von Besprechungen, Materiallisten, geschrieben mit Schreibmaschine auf schlecht
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