Delfinarium: Roman (German Edition)
stehe am Rand des Feldes und denke nach, ich muss jetzt nachdenken. Susann steigt ebenfalls aus und stellt sich neben mich. Es ist schon Nachmittag, die Sonne ist wieder zu sehen, sie malt unsere Schatten auf das Korn. In der Kornwelt sind wir Riesen mit ausufernden Konturen, mit Riesenschritten könnten wir bis zum Horizont aus Korn laufen. Ich schaue Susann an. Ich kann ihr Gesicht nicht richtig erkennen. Ich frage mich, ob sie das kennt, dass man vor einem Kornfeld steht und den Duft riecht, inhaliert, man fühlt sich weit und offen, man guckt in die untergehende Sonne und fühlt Sehnsucht, erinnert sich wehmütig an vergangene Sommer, als man irgendwie noch dichter dran, noch glücklicher war, noch enger, wahrer, aber es ist unwiederbringlich vergangen: Man steht von einer sanft schmerzenden Sehnsucht erfüllt und man denkt, dass die früheren Sommer irgendwie besser waren, erfüllter, damals war man noch ein Kind oder ein Jugendlicher und man lief irgendwo in den Ferien barfuß die staubigen Feldwege entlang, es wurde Abend und man stand am Rand des Kornfelds und alles war Licht und Freiheit und Heimat und Geruch, aber dann fällt einem ein, dass man auch damals schon Sehnsucht nach etwas Vergangenem hatte, als man am Feldrand saß und atmete, und wenn man sich wirklich ganz genau erinnert, weiß man eigentlich, dass man sich auch damals wehmütig an noch weiter zurückliegende Sommer und Kornfelder erinnerte. Dass es wohl immer so sein wird, dass man dasteht und sich nach etwas sehnt, das nicht da ist, dass Kornfelder einfach immer Sehnsucht auslösen, genau wie das Meer, man hat immer Sehnsucht, wenn man auf das Meer blickt, man kann gar nicht sagen, wonach oder wozu.
Ich wende mich ihr zu und sage: »Schön, oder?«
Sie steht ganz eng neben mir.
Und plötzlich greift sie wieder meine Hand. Hand in Hand stehen wir da und schauen über das Feld, unsere Schatten werden länger, und ich seufze innerlich, und es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich lieber wäre.
Ich habe keine Lust, umzukehren. Und ich habe auch keine Lust, jemanden anzurufen und um Hilfe zu bitten. Ich entfalte die Karte und suche den Punkt auf der Karte, an dem wir Max Braun aus den Augen verloren haben. Allzu weit kann er noch nicht gekommen sein. Außerdem, wenn ich ihn richtig verstanden habe, müsste er aus der Gegend kommen. Mit einem Kugelschreiber ziehe ich einen willkürlichen Kreis ab der Stelle, an der wir ihn zuletzt sahen. Ich betrachte das Resultat. So viele Ortschaften sind das gar nicht. Es ist noch reichlich Zeit, bis es dunkel wird.
Wir fahren auf der Landstraße, bei den Häusern brennt Licht in den Wohnzimmern und Küchen, die Hunde stehen so nahe am Zaun, wie die Ketten es zulassen, sie haben ihre Hütten verlassen und bellen uns aus ihren Dörfern hinaus. Mein Fenster ist heruntergelassen, es duftet nach Abendtau und Sommerstaub, man hört die Schwalben pfeifen und der Himmel ist ein reich verziertes Oval über unseren träumenden Köpfen. In einem Dorf sehe ich ein dämmerig rotes Auto halb verdeckt hinter einem Haus stehen, ich fahre dichter heran und erwecke den Argwohn einer dicken Frau in einem türkisen Kittel, aber es ist ein Renault, ein roter, und danach suchen wir nicht.
Motel. Motel traue ich mir zu. Und ich weiß auch, warum. Wenn ich mich irgendwo auf der Welt zu Hause fühle, dann ist es in Motels und auf Autobahnraststätten. Das liegt an früher. Wenn ich in meine Kindheit zurückblicke, wenn ich darin nach Anzeichen einer glücklichen, einer heilen Kindheit suche, dann muss ich an Autobahnraststätten denken. Familienidylle ist für mich mit dem Geruch von Raststätten verbunden. Eine der wenigen heilen Erinnerungen ist eine Tour, die wir gemeinsam unternahmen, Mutter, Vater und ich, eine Konzertreise. Er sollte irgendwo mit dem Orchester spielen, in Bamberg oder was weiß ich, und wir waren zu dritt unterwegs im VW-Käfer, meine Mutter und ich auf der Rückbank, weil der Kontrabass auf dem Beifahrersitz festgeschnallt war. Das Instrument füllte den halben Wagen aus und ließ meinen Vater eingeklemmt aussehen hinter dem Steuer. Papa fuhr damals einen uralten, dunkelgrünen VW-Käfer, den ich liebte. Wir aßen auf der Raststätte und obwohl es erst Nachmittag war, beschlossen die beiden, dass wir ein Zimmer im Motel nehmen würden und über Nacht bleiben. Sie schickten mich auf den Spielplatz, weil sie alleine im Zimmer sein wollten. Also spielte ich alleine auf dem Spielplatz neben dem
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