Delfinarium: Roman (German Edition)
sie nicht gehen ohne Beweise, niemals, ich muss auf sie aufpassen, ich kann sie nicht dem Erstbesten mitgeben. Ich halte ihre Hand, halte sie fest, und er zieht an der anderen Seite an ihr. Zieht sie auf sein Auto zu, das nur wenige Meter entfernt geparkt steht. Wir ziehen an dieser Frau, die mit angewinkelten Armen zwischen uns steht und in den Himmel guckt, als gäbe es dort etwas zu entdecken, als flöge dort ein Flugzeug durch das Blau, das eine Botschaft für sie zwischen die Wolken schreibt. Es ist ein stummes Ringen, vermutlich ist es ein komischer Anblick, nur ist mir nicht nach Lachen zumute, die Aktion läuft irgendwie aus dem Ruder.
Petra geht auf den ziehenden Mann zu und tritt ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein. Sie sagt: »Verpiss dich, du Arsch!«
Er lässt Susanns Hand los und hüpft auf der Stelle, hält sich das Bein. Ich fasse das Ganze nicht. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Es ist so absurd, ich bin wie unbeteiligt. Ich schaue in den Himmel, blau und weiß über dem Parkplatz. Über den Laternenmasten kreisen Möwen, als wäre dies ein Strand und nicht eine Verwahranstalt für Automobile.
Petra steht da mit dem Handy in der erhobenen Hand und sagt: »Okay, das war keine gute Idee, ich habe die Nummer der Polizei eingegeben, Sie verziehen sich jetzt besser.«
»Das könnt ihr nicht machen«, sagt er und schaut mich mit wildem Blick an.
Ich sage nichts. Susann schweigt. Ich zucke mit den Schultern. Max schaut erst mich, dann Petra an. Er schüttelt den Kopf. Sie sagt: »Wir müssen nachdenken, hauen Sie ab, wir melden uns wieder!«
13. Harvest
Unsere Taschen lagen im Kofferraum bereit, der Wagen war vollgetankt. Der rote Passat fährt etwa einhundert Meter vor uns auf der Landstraße. Ich bin nicht sicher, was ich mir davon verspreche. Ich schiebe eine Kassette in den Kassettenschlitz, die ich beim Beladen des Wagens im Kofferraum gefunden habe. In einem Kassettenköfferchen aus braunem Plastik. Neil Young.
Wir befinden uns auf der Bundesstraße 5. Wir schieben uns aus der Stadt hinaus Richtung Osten. Mir würde es auffallen, denke ich, wenn mich permanent ein grünmetallicfarbener Honda Civic verfolgen würde.
Das ist der Plan: Ich verfolge Max heimlich bis zu seinem Haus. Ich will sehen, ob Susann in irgendeiner Weise reagiert. Ich will sehen, wie ich darauf reagiere, wie sie auf mich wirkt, dort bei ihm. Wie eine Marie, eine Susann? Ich weiß nicht, was mich so sicher macht, dass er erst einmal nach Hause fährt und nicht einen Beobachtungspunkt in der Umgebung ansteuert. Ich kann Susanns Magen knurren hören, sie legt ihre Hand auf den Bauch und schaut mich an.
Ich werfe ihr einen Blick zu, als wir die Stadtgrenze passieren, vorbei am Ortsschild. So weit sind wir noch nie gemeinsam gefahren, aber es scheint ihr nichts zu bedeuten.
Ich schaue in ihr Gesicht und plötzlich wird mir klar, was es ist, was mich so oft irritiert, was mich stutzen lässt, ein Aushaken des Bewusstseins, die Worte fehlen, die Gedankenketten reißen ab und lassen mich versonnen und verloren starren. Da, wo bei anderen eine unverwechselbare Identität zu erkennen ist, wo man in ein Gesicht blickt und sich etwas spiegelt, wo man ein Gefühl für die Person bekommt, wo ein
Grundgefühl durchschimmert, eine tiefe Traurigkeit zum Beispiel oder eine grundsätzliche Verlorenheit, schimmert hier nichts durch. Einfach nichts. Da ist nichts, da ist keine Person. Niemand zu Hause. Als würde sie einen Nebel im Gesicht tragen, der alle Züge von Individualität verwischt. Der von ihr Besitz ergriffen hat und alles Vertraute auslöscht. Es erzeugt ein rumorendes Gefühl von Beunruhigung, es nagt an mir, denn durch dieses Etwas im Gesicht, das ein Nichts ist, wird mir das eigene Nichts gespiegelt. Wer bin denn ich im Grunde? Dort, wo alle Zuschreibungen aufhören, die ich mir selbst zu geben gewohnt bin. Ist da etwas, bin ich mir selbst nicht total vage? Wer sagt mir, dass ich nicht Martin sein kann? Etwas in der Art. In ihr Gesicht zu gucken ist wie in einen blinden Spiegel zu schauen, einen Vampirspiegel. Man sieht hinein und erkennt alles, wie es sein soll, sieht den Raum, so wie man ihn selbst wahrnimmt, aber da, wo die eigene Person sein sollte, ist nichts.
»Marie«, flüstere ich und gleich darauf: »Susann.«
Sie wendet mir den Kopf zu.
Bei Lauenburg fahren wir über eine Brücke. Jetzt befinden wir uns in der ehemaligen DDR, ein brauner Fluss, eine alte Brücke, links und rechts grüne Wiesen.
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