Delfinarium: Roman (German Edition)
habe einen Freund.«
»Oh«, flüstere ich und denke: Na toll, und will schon kehrtmachen und die Treppe zu meinem Zimmer hochsteigen, aber dann verstehe ich mit meinem Trüffelkopf, dass sie es nur sagt, um es gesagt zu haben, damit ich mich später nicht beschweren kann, falls ich doch etwas Ernstes möchte, und damit sie nicht schuld ist, denn eigentlich ist sie treu und sie hat sich gewehrt, aber ich habe mich nicht abhalten lassen, auch nicht von dieser Mitteilung. »Oh«, sage ich noch einmal, »okay«. Und ich frage mich kurz, ob ich ihr etwas sagen müsste, ob ich mich jemandem verpflichtet fühlen sollte, aber mir fällt nichts ein.
Dann zieht sie sich aus für mich in diesem Mädchenzimmer, sie dreht sich vor den Postern von Beyoncé, vor Sarah-Kay-Puppen und Cheerleaderbommeln, sie dreht sich nackt und ihr Körper glänzt und ich strecke meine Hände nach ihr aus.
Ihr Mund ist wirklich groß. Sie öffnet ihn für mich auf ihrer Satinbettwäsche, und ich sehe ihn vor mir riesengroß, und wieder springe ich, springe in diesen Pool, lange bin ich unterwegs, und dann komme ich an und tauche ein und bade schwarz in Schwärze.
»Schade«, sage ich irgendwann in der Nacht, als es hell wird. Ich liege da und betrachte dieses fremde Mädchen im Licht und bin weit davon entfernt einzuschlafen oder einschlafen zu können. Ich liege und warte auf den einen Moment, der irgendwann da sein wird. Ich werde hellwach und gefasst sein. Ich werde wissen, was ich zu tun habe. Der Moment wird groß wie ein Haus sein, wie ein Lastkraftwagen, wie ein Baum, eine Wolke, ein Schiff, und ich werde klein sein wie ein Mensch, hilflos und ausgeliefert.
»Guten Morgen, ich muss los«, sagt sie und stellt ein Plastiktablett mit einem Becher Kaffee und einem Croissant neben mich auf das Laken. Sie ist schon angezogen und schaut auf mich herab. Aus der offenen Zimmertür kann man das Radio hören, das in der Küche vor sich hindudelt.
»Ich muss jetzt zur Arbeit, du kannst hier noch rumliegen, du kannst mich später besuchen«, sagt sie in einem Ton, der wie eine Feststellung klingt, nicht wie ein Vorschlag, nicht wie eine Bitte oder eine Frage.
»Ja«, sage ich.
Sie beugt sich herab und küsst mich fahrig auf die Stirn. Sie schaut mir nicht in die Augen.
»Deine Mutter?«, frage ich.
»Wirst du nicht treffen.«
»Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?«, frage ich, als sie schon in den Flur verschwinden will.
»Melanie«, sagt sie. »Wieso? Habe ich das nicht gesagt?«
Ich höre sie im Flur herumhantieren. Die Musik im Radio ist unterbrochen. Die Sprecherin sagt: »Gesucht wird die 32-jährige Susann Windgassen. Frau Windgassen ist 1 Meter 83 groß und schlank. Sie ist vermutlich mit einem dunklen Rock und einer hellen Bluse bekleidet, die Kleidung ähnelt einer Stewardessenuniform. Frau Windgassen ist geistig verwirrt. Sie bedarf dringend medizinischer Hilfe. Sie könnte sich in Begleitung eines 20-jährigen jungen Mannes mit dunklen Haaren von gleicher Körpergröße befinden. Sachdienliche Hinweise nimmt das nächste Polizeirevier entgegen.«
»Bis später«, ruft Schade im Flur.
Obwohl es regnet, mache ich einen Gang am Meer, der Regen tränkt meine Kleidung, aber es spielt keine Rolle. Ich gehe an der Steilküste entlang, der Kies und die Algen knirschen unter meinen Füßen. Irgendwie tut es mir gut, dieses Knirschen. Ich gehe und mit jedem Schritt löst sich etwas in mir, das rhythmische Rauschen macht meinen Kopf frei. Irgendwann geht es nicht mehr weiter. Quer über den Strand steht ein Zaun, versperrt den Weg, ein rostiger Metallzaun mit dicken Holzbohlen. Der Zaun reicht von den Dünen bis weit ins Wasser hinein. Am Zaun ist ein Schild angebracht: Lebensgefahr. Betreten strengstens verboten. Munitionsbelastetes Gebiet. Explosionsgefahr. Hinter dem Zaun geht der Strand ganz normal weiter, bis die Küste eine Biegung macht. Ich würde gerne weitergehen, immer weiter am Strand entlang, den Windungen der Küste folgend, gehen und gehen, bis meine Beine müde werden, und immer gespannt, was hinter der nächsten Küstenwindung kommt, diese eine Windung noch, noch diesen einen Ausblick einsammeln. Aber da ist dieser Zaun. Hinter den flachen Dünen, da wo die Bäume beginnen, steht eine Reihe von Einzelhäusern mit roten Spitzdächern. Sie stehen in einer Linie, als wären sie von einem Gärtner angepflanzt, blicken mit hohlen Augen in dieselbe Richtung, in meine Richtung, glotzen mich an. Unbewohnte Häuser,
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