Delhi Love Story
umfassenden Prüfungen sicherstellen. Ich glaube nicht –«
Ma schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln und erklärte, dass die letzten Jahre sehr schwierig für mich gewesen waren und meine Noten aus dem vergangenen Jahr nicht repräsentativ wären. Er solle sich lieber meine Noten aus der Mittelstufe ansehen.
Dr. Nangia wurde schwach. Mas Lächeln, ihr Duft nach Orange und Ingwer und ihr ernster Blick machten ihn zuversichtlich. Er nestelte nachdenklich an seinem Spitzbart; seine Augen verrieten Mitgefühl.
»Eine Familientragödie wie diese …«
»Anisha war immer eine hervorragende Schülerin. Und an dieser Schule wird ja auch Vielfalt angestrebt?«
»Das stimmt. Wir haben Schüler aus ganz unterschiedlichen Schichten und Nationen –«
»Dann verstehen Sie sicher, dass der Lehrplan in Anishas früherer Schule ganz andere Inhalte hatte. Sie wird anfangs etwas Hilfe brauchen.«
»Wir bieten Tutorien nach dem Unterricht an.«
»Großartig! Sie wird daran teilnehmen.«
Ich trat Ma unter dem Tisch gegen das Schienbein, aber es half alles nichts. Dr. Nangia blickte mich nachdenklich an. Er wirkte schon beinahe entschlossen. »Wenn ich recht verstehe, interessierst du dich für den naturwissenschaftlichen Zweig?«
»Anisha liebt Naturwissenschaften!«
»Ich habe eine Drei in Naturwissenschaften, Ma!«
»Dienstags und donnerstags von zwei bis vier haben wir naturwissenschaftlichen Zusatzunterricht für die, die noch Übung brauchen.«
»Sie wird teilnehmen.«
»Aber Ma …!«
Doch Ma und Dr. Nangia waren schon aufgestanden und gaben einander die Hand. Dr. Nangia manövrierte uns aus seinem Büro, und ich fühlte mich kein bisschen besser, als er sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Rai. Anisha muss einfach nur sehr, sehr hart arbeiten. Wir kümmern uns um den Rest.«
Ich schiebe die Erinnerung an das Gespräch beiseite und sehe mir stattdessen das Gebäude auf der linken Seite
an, an dem wir gerade vorbeigehen. Es wirkt düster und verlassen, an den Fenstern ist niemand zu sehen. »Was ist hier los?«, frage ich Keds. »Wird hier renoviert?«
»Nein, das sind die Räume der zehnten und zwölften Klassen. Die brauchen ihre Ruhe.«
»Wieso?«
»Abschlussprüfungen. Die Armen lernen das ganze Jahr. Du hast Glück, dass du in der Elften gekommen bist, Ani. Hättest du letztes Jahr hier angefangen …«
Ich stelle mir die Gefängniszellen hinter den kleinen Fenstern vor. Jeden Tag nur lernen und sich vom Lehrer quälen lassen. »Hoffentlich bekommen sie Briefmarken und Zigaretten und dürfen ab und an einen Brief an ihre Eltern schreiben«, sage ich.
»So schlimm war das nicht, ich bin ja auch normal geblieben.«
»Inwiefern bist du normal?«
Er grinst. »Kopf hoch. Du schaffst das schon.«
Ich schließe die Augen. Die Sonne ist viel zu stark. Alles ist viel zu schwer. »Keds«, sage ich, »du verstehst mich nicht –«
Er lächelt kaum merklich, schnipst mir ein paar Haare ins Gesicht und sagt, er verstehe mich sehr wohl.
Er bringt mich bis zum Sekretariat und hält zum Abschied beide Daumen hoch. Ich blicke ihm hinterher, betrachte die Leere, die er zurücklässt. Dieser Teil der Schule ist momentan ganz verlassen. Hinter dieser Tür werde ich erfahren, was genau Dr. Nangia für mich vorgesehen hat. Ich klopfe an und gehe hinein. Hinter vier Schreibtischen voller Unterlagen sitzen vier griesgrämig
dreinblickende Männer und lesen vier verschiedene Teile der gleichen Zeitung.
»Entschuldigung …«
Einer blickt auf, faltet die Zeitung zusammen und fragt: »Bist du neu hier?«
»Ja, ich sollte mich hier melden.«
Er nimmt einen Schluck Tee aus einer alten Tasse, die vor ihm steht. Missbilligend sieht er mich an, dann schreibt er meinen Namen auf. Es dauert ewig, bis er schließlich ein Formular aus einer knarzenden Schublade zieht und mich darüber informiert, dass meine Anmeldung nicht vollständig ist.
»Aha.«
»Du hast kein viertes Fach angegeben.«
»Nicht?«
Er nimmt noch einen Schluck Tee. Sein Gesichtsausdruck sagt mir deutlich, dass es ihm viel besser ginge, wenn ich mich einfach in Luft auflöste. »Welches ist dein viertes Fach?«
Ich habe keine Ahnung. Ich nehme das Formular und lese es durch. »Ich habe ein Problem«, sage ich.
Er lehnt sich zurück und antwortet, es gäbe immer irgendein Problem.
»Aus irgendeinem Grund steht hier, ich hätte Physik, Chemie und Mathe.«
»Genau.«
»Jaja, aber das kann nicht stimmen. Mathe und zwei Naturwissenschaften in ein und
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