Delhi Love Story
still, mein Schatz. Sie nimmt dir diesen Moment weg und sagt dir, dass du ihn nicht behalten darfst. Dass er vorbei ist. Dass du neue Momente finden und neues Glück schaffen musst.«
Sie öffnet die Augen und setzt sich gerade hin. Ohne den direkten Lichteinfall wirkt ihr Gesicht dunkler, älter.
»So wie mit JD?«, werfe ich in den Raum.
Die Frage überrascht sie. Sie wirkt beunruhigt, steif.
»Was meinst du, Ann?«
»Ich meine, ist JD dein ›neues Glück‹?«
»Vielleicht.«
Ihre Worte fühlen sich an wie eine Ohrfeige.
»Ich mag JD«, sagt sie. »Er ist ehrlich und direkt, und das schätze ich. Er ist klug, fleißig und bescheiden. Außerdem ist er sehr lustig. Ich kenne ihn noch nicht gut, aber das ändert sich langsam … wir freunden uns an. Stört dich das?«
»Sollte es mich stören?«
Sie lehnt sich über den Tisch, nimmt meine Hände in ihre. »Nein, das sollte es nicht.«
»Dann stört es mich nicht.«
»Gut.«
Ich nicke, lächle sie an. Eins … zwei … drei, zähle ich, ziehe meine Hände zurück und gehe in mein Zimmer.
Erst nach Mitternacht schaltet Ma das Licht im Esszimmer aus. Leise kommt sie in mein Zimmer, geht zum Fenster und zieht die Vorhänge zu. Sie beugt sich zu mir herunter: »Gute Nacht, Annie.« Ihr Gesicht ist nah an meinem. Ich warte, bis ich ihre Schritte nicht mehr hören kann, dann stehe ich auf und öffne die Vorhänge wieder.
Draußen ist es stockfinster. Dunkel hebt sich der Umriss des Baums vor dem Himmel ab, die dürren Zweige wirken verloren. Aus irgendeinem Grund sind heute keine Sterne am Himmel zu sehen. Es ist ganz still. So still, dass man die Szenerie vor dem Fenster fast mit einem Gemälde verwechseln könnte. Mit einem Stillleben, das seine ganze Einsamkeit in den Betrachter hineinfließen lässt, wenn man es zu lange ansieht. Ich blicke hoch zum stummen Himmel und wünsche mir, dass irgendetwas passiert, dass ein Vogel vorbeifliegt, Wind aufkommt und der Szenerie Leben einhaucht. Nichts geschieht. Der Baum steht groß und einsam in der Dunkelheit, stumm und unbeweglich. Tränen treten mir in die Augen, der Baum verschwimmt.
9810058625.
Ich frage mich, ob er wach ist. Und wie er am Telefon klingt … Ich hole mein Handy aus dem Rucksack und lege mich wieder ins Bett.
98100 … Schon das Drücken der Tasten ist aufregend, genau wie das Wissen, dass die Zahlen zu ihm führen … 58625.
Die Zahlen leuchten auf dem Display. Ich zögere, dann drücke ich auf »Anrufen«. Noch während gewählt wird, lege ich wieder auf.
Erneut tippe ich die Nummer ein. Es wird zu einem Spiel: Wählen, Auflegen. Wählen, Auflegen. Ganz harmlos. Es ist genau so lange harmlos, bis ich zu lange warte, bevor ich auflege. Ich höre das Klingeln und lege erst dann auf. Zehn Sekunden später vibriert mein Handy.
»Ani?«
Seine Stimme klingt amüsiert. Als hätte er schon die ganze Zeit gewusst, dass ich anrufen würde. Ich lege auf.
Es klingelt wieder, das Telefon vibriert in meiner Hand. Es leuchtet in der Dunkelheit, mein Herzschlag scheint schneller zu werden. Ich nehme das Gespräch an. »Ich lege jetzt auf«, flüstere ich. »Bitte ruf nicht wieder an.«
»Aber du hast doch mich angerufen.«
»Tut mir leid, das war ein Fehler.«
»Warum?«
Ich beiße mir auf die Lippe, drücke das Handy fester ans Ohr. Er klingt belustigt. »Ich konnte mein Glück nicht fassen, als du heute das Podium betreten hast«, sagt er. »Ich ertrug diese fürchterliche Veranstaltung, und auf einmal kommst du in deinem süßen kurzen Rock, voller Leidenschaft und Zielstrebigkeit. Du hast mir gar nicht erzählt, dass du in einem Debattierklub bist.«
»Na ja –«
»Bei unserem letzten Treffen hatten wir allerdings anderes zu besprechen.«
»Es ist spät«, sage ich. »Ich sollte auflegen.«
»Warum hast du überhaupt angerufen?«
»Warum hast du mir deine Nummer gegeben?«
»Sag du es mir.«
»Kunal –«
»Wir treffen uns morgen. Im Café Barista im MGF-Einkaufszentrum, um fünf Uhr?«
»Ich glaube nicht –«
»Bis dann.«
Neunzehn
Als ich das Einkaufszentrum betrete, sehe ich auf die Uhr: Ich bin 15 Minuten zu spät. Obwohl ich früh aufgebrochen bin, obwohl ich den ganzen Vormittag nichts getan habe, außer auf ein und dieselbe Seite in meinem Physikbuch zu starren, und obwohl ich den ganzen Nachmittag aus dem Fenster geschaut habe. Ich habe mein Outfit und meine Meinung 100 Mal geändert, ich bin vor dem Gebäude hin und her gelaufen, ich habe nachgedacht, bis ich nicht
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