Delhi Love Story
einem Seufzer rücke ich meinen schweren Rucksack zurecht. Es ist schon fast fünf Uhr, die Sonne steht tief und scheint die Baumkronen zu berühren. Die Tage werden kürzer, und noch ehe man für den Abend bereit ist, greift er schon nach einem. Alles scheint außer Kontrolle zu geraten.
»Was passiert, wenn man die Abschlussprüfungen vermasselt?«, will ich wissen. »Wird man dann gleich rausgeworfen?«
»Nein, sie geben einem genug Zeit, die Sachen zu packen. «
»Ich sollte schon mal Abschiedsbriefe schreiben.«
»Entspann dich. Du schaffst das schon. Die Abschlussprüfungen zum ersten Halbjahr sind immer einfach.«
Ein großer Stein liegt vor mir auf dem Weg. Ich trete dagegen, sehe ihm zu, wie er davonfliegt. »Du sagst immer, alles wäre so leicht.«
»Ist es das etwa nicht?«
»Blödmann, natürlich nicht.«
Er sieht mich lange von der Seite an. »Was ist los, Ani?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Nichts.« Ich muss nur eine Nummer vergessen.
Auf dem Heimweg herrscht dichter Verkehr; der Schulbus kommt nur langsam voran. Wir stehen hinten im Bus und federn die plötzlichen Brems- und Beschleunigungsmanöver ab; meine Beine schmerzen. Nach einer Weile gebe ich auf und setze mich auf einen der leeren Plätze: »Aaah. Das fühlt sich gut an.«
»Rutsch rüber.«
Ich mache ihm Platz. Er setzt sich, nimmt viel Raum ein. »Kannst du dir keinen anderen freien Platz suchen?«, beschwere ich mich.
Er ignoriert mich und macht sich noch breiter. »Komm doch später bei mir vorbei«, schlägt er vor.
»Ich? Unternimmst du nichts mit Nikki?«
»Wieso glaubst du immer, wir würden etwas unternehmen ?«
»Tut ihr das etwa nicht?«
»Wir haben uns in den letzten zwei Wochen kaum gesehen. «
»Weil ihr lernen musstet? Oder kühlt eure große Romanze schon ab?«
»Es ist nun wirklich keine große Romanze.« Er sagt es abfällig, verzieht dabei den Mund.
»Hey, was ist los?«
»Nichts.«
»Ach ja?«
»Mensch, Ani, du gehst mir auf die Nerven. Nichts ist los. Nikki und ich verbringen einfach nicht unsere gesamte
Zeit miteinander, okay? Außerdem habe ich nur gefragt, ob du nachher vorbeikommen möchtest. Wie blöd von mir.«
Schmollend wirft er sich in den Sitz und schließt die Augen. Ich steche ihm so lange meinen Ellbogen in die Rippen, bis er mich wieder ansieht.
»Ich kann dich nicht besuchen, weil Ma heute schon früh nach Hause kommt.«
»Früh?«
»Ja, ich weiß«, seufze ich, »ich konnte es auch nicht glauben. Sie sagt, wir feiern den Ferienbeginn.«
»Wie schön!«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Es soll ein Frauenabend werden, wir schauen vielleicht ein oder zwei Filme an. Willst du mitmachen?«
Er schüttelt sich. »Bei einem Frauenabend? Nein danke!«
Ich seufze wieder. »Das dachte ich mir. Ich richte Ma liebe Grüße von dir aus.«
Gerade als ich aus dem Bus steige, klingelt mein Handy. Ich blicke dem Bus hinterher und frage mich, ob es Keds ist, der in letzter Minute seine Meinung geändert hat. Dann sehe ich Mas Nummer auf dem Display.
»Ma?«
»Hallo, Liebling! Es gibt eine kurzfristige Planänderung. Die Jungs hier beschweren sich, ich sei schon so lange nicht mehr mit ihnen essen gegangen. Es tut mir wirklich leid, aber –«
Aber.
»Kein Problem, Ma. Geh nur mit ihnen essen.«
»Ich werde versuchen, so früh wie möglich von dort zu verschwinden, in Ordnung?«
»Klar.«
»Bestell doch einfach um acht Uhr wie geplant die Pizza.«
Ma. Es gibt Menschen, die kommen früh nach Hause. Und es gibt Menschen, die immer versuchen, früh nach Hause zu kommen, ohne dass es ihnen je gelingt. Obwohl ich genau weiß, dass sie niemals bis acht Uhr zu Hause sein wird, verspreche ich, die Pizza zu bestellen.
Das Treppenhaus liegt im Dunkeln, als ich im vierten Stock aus dem Fahrstuhl steige. Sogar durch die Glastüren dringt kein Licht, weil gerade eine Wolke vorbeizieht. Ich taste an der Wand nach dem Lichtschalter. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss erscheint mir laut. Ich drücke die Wohnungstür auf. Die Luft in der Wohnung fühlt sich abgestanden und schwer an. Schon wieder, denke ich. Ein weiterer leerer Tag in der leeren Wohnung. Schöne Ferien.
Um halb zehn höre ich Mas Schlüssel in der Tür. Ich sitze am Esstisch über meine Chemiebücher gebeugt. Sie betritt die Wohnung. »Entschuldige!«, ruft sie und umarmt mich. »Bitte bring mich nicht um!«
Ich lächle müde. »War es nett?«
»Erstaunlicherweise ja.«
»Dann verzeihe ich dir.«
Sie gibt mir einen
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