Delhi Love Story
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Ich bücke mich und untersuche den Rucksack. Der dunkle Leinenstoff ist voller Öl- und Fettflecken. Durch einen Riss an der Seite erkenne ich Unterwäsche, einen Plastikkamm, die Ecke eines Bilderrahmens. Ich ziehe den Rahmen durch das Loch heraus.
Das Bild zeigt ein steif aussehendes Paar. Der Sari Pallu der Dame bedeckt die Hälfte ihres Gesichts. Der Herr trägt einen dünnen Schnurrbart und hat ernste, karamellbraune Augen. Ich studiere die feinen Gesichtszüge … Das müssen Ranis Eltern sein! Der Vater hat die gleiche erhabene Haltung und Würde. Und das kaum sichtbare Grübchen in der Wange der Dame? Vorsichtig schiebe ich das Bild wieder in den Rucksack. Es ist zweifelsohne
wertvoll, und sie haben es achtlos hier hineingestopft und uns mit dem Rest ihrer Sachen vor die Tür gestellt.
Ich bringe den Rucksack ins Gästezimmer. In der Tür bleibe ich wie erstarrt stehen; habe für einen Moment den Eindruck, ich sei ins falsche Zimmer gegangen. Es hat sich sehr verändert: Vom Abstellraum hat es sich über Nacht in ein richtiges Zimmer verwandelt. An den gestern noch nackten Fenstern hängen jetzt zartrosa Vorhänge. Der Schminktisch, in dem Ma Hunderte alter Kosmetika aufbewahrt hatte, ist nun makellos und sauber; die Fläschchen und Tiegel sind fein säuberlich entlang des Spiegels angeordnet. Ich suche nach dem Berg Kleider, der gestern noch auf dem Boden lag. Er ist nicht zu sehen; stattdessen liegt dort ein kleiner rosafarbener Teppich in Form einer Rosenblüte. Irgendwie kommt er mir bekannt vor …
Natürlich! Er lag früher neben meinem Babybett und war Teil eines Sets, zu dem auch rosa gemusterte Vorhänge gehörten. Ich sehe mir die Vorhänge nochmals an. Das Muster ist mittlerweile ausgeblichen. Ich streiche mit der Hand darüber. Der Stoff riecht noch nach der Babyzeit. Ich hebe eine Ecke des Vorhangs hoch und finde die Initialen, die Ma daraufgestickt hat – genauer gesagt, eines der Initialen, das »R«. Das »A« muss sich irgendwann gelöst haben, überlege ich lächelnd. Arme Ma, vor meiner Geburt hat sie soviel genäht, gestrickt und bestickt! Wenn ich mir vorstelle, dass sie diese Vorhänge vor all den Jahren nur für mich genäht hat … Sie wollte eine hübsche, kleine Prinzessin und hat doch nur
mich bekommen. Ich streiche den Vorhang glatt und freue mich, dass wenigstens jetzt jemand Verwendung dafür hat.
Ich öffne die Schranktür und bereite mich schon darauf vor, dass mir die üblichen Wäscheberge entgegenfallen. Stattdessen finde ich ordentlich gefaltete kleine Stapel vor. Ich entdecke Bettbezüge, von deren Existenz ich bis dato nichts wusste, finde Laken, Kissenhüllen und Tischdecken säuberlich sortiert. Ganz oben liegen in Reih und Glied die Kleidungsstücke. Sie sehen verdächtig danach aus, als hätte sie jemand eben erst gebügelt.
Ich wuchte den Rucksack aufs Bett und kämpfe mit den Schnallen. Rani wird müde sein, wenn sie zurückkommt. Sie wird sich bestimmt freuen, wenn ihre Sachen schon eingeräumt sind.
Sie besitzt nicht viel – wenigstens haben die Bajajs nicht viel in den Rucksack gepackt. Ein bisschen Unterwäsche, zusammengeknüllt wie alte Zeitungen, ein paar Schuluniformen, ein halbes Dutzend unscheinbarer Salwar-Kameez’. Ein Stapel zerlesener Bücher und Notizblöcke, ein uralter Taschenrechner, zwei Füller. Und, in einer Plastiktüte, ein halb verbrauchtes Stück Seife, eine zerbeulte Dose Talkumpuder; ein Tiegel Haaröl und eine alte Zahnbürste, deren Borsten ganz verbogen und abgenutzt sind. Die Zahnbürste gibt mir den Rest. Tränen steigen mir in die Augen. Ich hole Rani eine neue Zahnbürste.
Noch lange nachdem ich Ranis Sachen eingeräumt habe, kann ich mich kaum auf das Lernen konzentrieren. Immer
wieder blicke ich von den Büchern auf. Die arme Rani. Ihre Sachen wurden einfach bei uns abgeladen, wie Gepäck, das keiner braucht. Die ganze Familie ist herzlos, sogar Rupa. Wie konnte sie einfach gehen, ohne sich zu verabschieden? Monatelang hat Rani große Opfer gebracht, um die Bajajs zufriedenzustellen, sie hat alles ertragen: Chandras Gemeinheiten, Raginis Trotzanfälle, Rajivs widerliche Art – und zum Schluss hat sie nicht mehr als das ?
Es macht mich verrückt, dass Leute wie Rajiv einfach davonkommen. Wenn Papa noch lebte, wäre der Mann Geschichte. Papa wäre es egal, dass es keine rechtliche Handhabe gibt, er würde sich nicht um irgendwelche »Auswirkungen« kümmern. Die Folgen für Rangini, Ranis
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