Delirium
nicht, ich glaube, das bringt Unglück. Irgendwie ertrage ich den Gedanken nicht. Wenn er nicht antwortet, muss ich schlieÃlich doch akzeptieren, dass er meine Nachricht nicht gekriegt hat â oder, noch schlimmer, sie zwar gekriegt hat, aber nicht herkommen wollte.
Im Wohnzimmer bleibe ich wie angewurzelt stehen.
All unsere Sachen â die Decken, die Spiele, die Bücher â sind weg. Der verzogene Holzboden liegt nackt und leer im Strahl meiner Taschenlampe. Die Möbel stehen kalt und schweigend da, all unserer persönlichen Gegenstände beraubt, der abgelegten Sweatshirts und halb leeren Sonnencremetuben. Es ist lange her, dass mir das Haus unheimlich erschien oder ich mich gefürchtet habe, nachts seine Zimmer zu betreten. Aber jetzt kehrt das Gefühl angesichts der riesigen kahlen Räume zurück â Zimmer um Zimmer mit einstürzenden Dingen, zerfallenden Dingen, Nagern, die einen aus dunklen Ecken anblinzeln â, und ein heftiger Schauer durchfährt mich. Alex muss also doch hier gewesen sein, um unsere Sachen wegzuräumen.
Die Botschaft ist so deutlich, als hätte er sie aufgeschrieben. Er ist fertig mit mir.
Einen Augenblick vergesse ich sogar zu atmen. Und dann kommt die Kälte, eine enorme Woge, die mir mit voller Kraft vor die Brust schlägt, als würde man direkt durch die Brandung laufen. Meine Knie geben nach und ich gehe unkontrolliert zitternd in die Hocke.
Er ist weg. Ein erstickter Laut kriecht mir aus der Kehle und zerschneidet die Stille um mich herum. Ich schluchze in der Dunkelheit laut auf. Die Taschenlampe fällt mir aus der Hand und erlischt. Ich werde weinen, bis ich das ganze Haus mit Tränen angefüllt habe und darin ertrinke.
Dann spüre ich im Nacken eine warme Hand, die mir durch die Haare fährt.
»Lena.«
Ich drehe den Kopf und da ist Alex und beugt sich über mich. Ich kann den Ausdruck in seinem Gesicht nicht genau erkennen, aber in dem schwachen Licht wirkt es hart auf mich, hart und unbeweglich, als wäre es aus Stein. Einen Augenblick fürchte ich, dass ich nur träume, aber dann berührt er mich erneut und seine Hand ist fest und warm und rau.
»Lena«, sagt er erneut, aber er scheint nicht zu wissen, was er sonst sagen soll. Ich rappele mich auf und wische mein Gesicht mit dem Unterarm ab.
»Du hast meine Nachricht bekommen.« Ich versuche die Tränen runterzuschlucken, aber jetzt habe ich einen Schluckauf.
»Nachricht?«, wiederholt Alex.
Ich wünschte, ich hätte die Taschenlampe noch in der Hand, um sein Gesicht genauer zu sehen. Gleichzeitig habe ich Angst vor der Distanz, die ich darin entdecken könnte. »Ich habe dir eine Nachricht beim Gouverneur hinterlassen«, sage ich. »Ich wollte mich hier mit dir treffen.«
»Ich hab sie nicht bekommen«, sagt er. Ich glaube, Kälte in seiner Stimme wahrzunehmen. »Ich bin nur gekommen, um â¦Â«
»Nein.« Ich kann ihn nicht ausreden lassen. Ich kann ihn nicht sagen lassen, dass er hier ist, um zusammenzupacken, dass er mich nicht mehr sehen will. Das wird mich umbringen. Liebe, die gefährlichste aller Krankheiten. »Hör zu«, sage ich und hickse mich durch die Wörter. »Hör zu, wegen heute Nachmittag ⦠das war nicht meine Idee. Carol hat gesagt, ich müsse mich mit ihm treffen, und ich konnte dir nicht Bescheid sagen. Und dann standen wir da und ich habe an dich gedacht und an die Wildnis und wie sich alles verändert hat und dass keine Zeit mehr ist, dass wir keine Zeit mehr haben, und eine Sekunde lang â nur eine Sekunde â habe ich mir gewünscht, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles wäre wieder so wie früher.« Das ergibt kaum einen Sinn, das weià ich. Die Erklärung, die ich so oft in meinem Kopf durchgegangen bin, gerät total durcheinander und die Wörter purzeln herum. Aber es spielt sowieso keine Rolle: Beim Reden wird mir klar, dass es nur eins gibt, was wirklich wichtig ist. Alex und ich haben keine Zeit mehr. »Aber ich schwöre, dass ich es mir nicht wirklich gewünscht habe. Ich hätte nie ⦠wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, könnte ich nie ⦠vor dir wusste ich überhaupt nichts, nicht wirklich â¦Â«
Alex zieht mich an sich und schlingt die Arme um mich. Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. Es passt da so gut hin, genau als wären unsere Körper füreinander
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