Delirium
ich heraus. Da dreht Alex sich um, er sieht erschrocken aus. Ich bin genauso überrascht wie er. Bevor ich diese Wörter ausgesprochen habe, wusste ich noch nicht mal, dass ich sie sagen würde. »Ich will nicht so sein wie sie. Verstehst du das nicht? Ich habe gesehen, was es mit ihr gemacht hat, ich habe gesehen, wie sie war ⦠Es hat sie umgebracht, Alex. Sie hat mich verlassen, meine Schwester, alles. Alles für dieses Etwas, dieses Etwas in ihr. Ich werde nicht so sein wie sie.« Ich habe noch nie richtig darüber gesprochen und ich bin überrascht, wie schwierig es ist. Jetzt muss ich mich abwenden, mir ist übel und ich schäme mich, dass die Tränen schon wieder flieÃen.
»Weil sie nicht geheilt war?«, fragt Alex sanft.
Ich bekomme kein Wort heraus und weine jetzt einfach lautlos, hoffe, dass er es nicht merkt. Als ich meine Stimme wieder unter Kontrolle habe, sage ich: »Es ist nicht nur das.«
Dann strömt alles hervor, alle Einzelheiten, Dinge, die ich noch mit keinem Menschen geteilt habe: »Sie war so anders. Ich wusste es â dass sie anders war, dass wir anders waren â, aber zu Anfang war das nicht unheimlich. Es fühlte sich einfach so an wie unser kleines wunderbares Geheimnis. Meins und ihrs und auch Rachels, als wären wir in einem Kokon. Es war ⦠es war toll. Wir zogen alle Vorhänge zu, damit niemand reingucken konnte. Wir spielten immer dieses Spiel, wo sie sich im Flur versteckte und wir versuchten an ihr vorbeizurennen und sie raussprang und uns packte â Kobold spielen, nannte sie es. Es endete jedes Mal mit einer Kitzelattacke. Sie lachte dauernd. Wir alle lachten dauernd. Immer mal wieder, wenn wir zu laut wurden, schlug sie die Hände vor den Mund und lauschte einen Moment ganz angespannt. Wahrscheinlich lauschte sie auf die Nachbarn, um sicherzugehen, dass niemand Verdacht schöpfte. Aber es kam nie jemand.
Manchmal machte sie uns Blaubeerpfannkuchen zum Abendessen, als besonderen Leckerbissen. Die Blaubeeren pflückte sie selbst. Und sie sang immer. Sie hatte eine schöne Stimme, einfach groÃartig, wie Honig â¦Â«
Meine Stimme bricht, aber ich kann jetzt nicht aufhören. Die Wörter flieÃen, sprudeln hervor. »Sie tanzte auch. Das habe ich dir schon erzählt. Als ich klein war, stellte ich mich mit den FüÃen auf ihre. Sie schlang die Arme um mich und wir bewegten uns langsam durchs Zimmer, während sie den Takt zählte und versuchte mir etwas über Rhythmus beizubringen. Ich war fürchterlich unbeholfen, aber sie sagte mir immer, ich sei schön.« Tränen lassen die Bodendielen zu meinen FüÃen verschwimmen.
»Es war nicht alles gut, nicht immer. Manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aufstand, um aufs Klo zu gehen, hörte ich sie weinen. Sie versuchte es immer zu ersticken, indem sie sich in ihr Kissen presste, aber ich wusste es. Es machte mir Angst, wenn sie weinte. Ich habe sonst nie einen Erwachsenen weinen sehen, weiÃt du? Und so, wie sie es tat, dieses Klagen ⦠wie ein Tier. Und es gab Tage, an denen sie gar nicht aufstand. Die nannte sie ihre schwarzen Tage.«
Alex rückt näher an mich heran. Ich zittere so stark, dass ich kaum noch stehen kann. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als versuchte er etwas auszustoÃen, irgendetwas tief aus meiner Brust hervorzuhusten. »Ich habe immer gebetet, dass Gott sie von ihren schwarzen Tagen heilen möge. Dass er sie behüten möge â für mich. Ich wollte, dass wir zusammenbleiben konnten. Manchmal schien es, als wirkten die Gebete. Meistens war es gut. Besser als gut.« Ich kann die Worte kaum aussprechen. Ich muss sie leise flüsternd herauspressen. »Verstehst du nicht? Sie hat all das zurückgelassen. Sie hat es aufgegeben â für dieses Etwas . Liebe. Amor deliria nervosa â wie immer man es nennen will. Sie hat mich verlassen.«
»Es tut mir leid, Lena«, flüstert Alex, jetzt hinter mir. Diesmal streckt er die Hand aus. Er fängt an, groÃe, langsame Kreise auf meinen Rücken zu malen. Ich lehne mich an ihn.
Aber ich bin noch nicht fertig. Ich wische mir energisch die Tränen ab, hole tief Luft. »Alle glauben, dass sie sich umgebracht hat, weil sie es nicht ertragen konnte, den Eingriff noch einmal über sich ergehen zu lassen. Sie haben immer noch versucht sie zu heilen, weiÃt du. Es wäre ihr viertes Mal gewesen. Nach dem
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