Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
erzählen, hier jetzt gleich und auch in der Klasse. Sie würden davon mehr haben als von Vielem andrem. Aber ich darf es nicht.« Dies richtete sich gegen den Direktor, den alten Klöden, der, glaub’ ich, hinter Ruthes Sittlichkeitsanschauungen ein großes Fragezeichen machte. Nun also, Ruthe war ein prächtiger Mann, trotzdem er uns das »Rätsel des Lebens« immer schuldig blieb, aber wenn ich ihn auch noch mehr geliebt hätte: daß er von der Rudower Wiese nicht loskonnte, das war doch etwas Schreckliches für mich. Denn wenn er in seiner Köpnicker Straße war und der Rest meiner Kameraden es wenigstens nicht mehr allzuweit bis nach Hause hatte, dann fing für mich das Vergnügen erst an, dann mußt’ ich mit nur zu oft wundgelaufenen Füßen – Stiefel, in die meine Hacken hineingepaßt hätten, hatte ich fast nie – von der Köpnicker Straße noch bis »zu Liesens« laufen, was wenigstens anderthalb Stunden dauerte. Zuletzt angekommen, hatte ich noch die Pflanzen in Löschblätter zu legen und fiel dann todmüde ins Bett. Man male sich aus, mit welcher Freudigkeit ich dann am Donnerstagmorgen in die Schule ging. Es ging einfach über meine Kräfte.
Die Folge dieser »Liesenschen Sommerfrische« war denn auch, daß ich mehr und mehr in Bummelei verfiel und mich daran gewöhnte, die erste Stunde von acht bis neun zu schwänzen, was sehr gut ging, weil der französische Professor, der an wenigstens drei Schulen Unterricht gab, sich den Teufel darum kümmerte, wer da war und wer nicht. Und wie der Löwe, wenn er erst Blut geleckt, nicht säuberlich innehält, so war auch mir bald die Stunde von acht bis neun viel zuwenig, und binnen kurzem hatt’ ich es dahin gebracht, mich halbe Wochen lang in und außerhalb der Stadt herumzutreiben. Es empfahl sich das auch dadurch, daß sich bei solchen Tagesschwänzungen leichter von »Krankheit« sprechen ließ. Und das Vierteljahr von Oktober bis Weihnachten war die schönste Zeit dazu.
Das Verwerfliche darin war mir ganz klar, aber man findet immer etwas, sein Gewissen zu beschwichtigen. Und in der Jugend natürlich erst recht. Ich redete mir also ein, es sei mein Beruf, binnen kurzem »Botaniker« zu werden, und für einen solchen sei ein regelmäßiges Abpatrouillieren von Grunewald und Jungfernheide viel, viel wichtiger als eine Stunde bei dem Deutschgrammatiker Philipp Wackernagel, der uns – ich glaube sogar zum Auswendiglernen – unzählige Beiwörter auf »ig« und »ich« in unser Heft diktierte. Noch jetzt blick’ ich mit Schrecken darauf zurück. Was er, Wackernagel, ein ausgezeichneter Mann und Gelehrter von Ruf, sich eigentlich dabei gedacht hat, weiß ich bis diese Stunde nicht. Also Grunewald und Jungfernheide nahmen mich auf, und wenn ich es an dem einen Tage mit den Rehbergen oder mit Schlachtensee versucht hatte, so war ich tags darauf in Tegel und lugte nach dem Humboldtschen »Schlößchen« hinüber, von dem ich wußte, daß es allerhand Schönes und Vornehmes beherberge. Nebenher war ich aber auch wirklich auf der Suche nach Moosen und Flechten und bildete mich auf diese Weise zu einem kleinen Kryptogamisten aus. Nicht allzusehr zu verwundern; Moose sind nämlich, wenn sie blühen, etwas tatsächlich ganz Wunderhübsches. Gegen ein Uhr war ich dann meist wieder zu Haus, aß mit beneidenswertem, durch Gewissensbisse nicht wesentlich gestörten Appetit und sah mich, wenn ich von Tisch aufstand, nur noch der Frage gegenüber, wie die zwei verbleibenden Nachmittagsstunden geschickt unterzubringen seien. Aber auch das ging. An der Ecke der Schönhauser- und Weinmeisterstraße, will also sagen an einer Stelle, wohin Direktor Klöden und die gesamte Lehrerschaft nie kommen konnten, lag die Konditorei meines Freundes Anthieny, der der Stehely jener von der Kultur noch unberührten Ostnordostgegenden war. Da trank ich dann, nachdem ich vorher einen Wall klassisch-zeitgenössischer Literatur: den »Beobachter an der Spree«, den »Freimütigen«, den »Gesellschafter« und vor allem mein Leib- und Magenblatt, den »Berliner Figaro«, um mich her aufgetürmt hatte, meinen Kaffee. Selige Stunden. Ich vertiefte mich in die Theaterkritiken von Ludwig Rellstab, las Novellen und Aufsätze von Gubitz und vor allem die Gedichte jener sechs oder sieben jungen Herren, die damals – vielleicht ohne viel persönliche Fühlung untereinander – eine Berliner Dichterschule bildeten. Unter ihnen waren Eduard Ferrand, Franz von Gaudy, Julius Minding und August
Weitere Kostenlose Bücher