Delphi sehen und sterben
den Hügel. Lampon machte schwache Anstrengungen, mir zu helfen, als ich eine der Bronzetüren aufstemmte und sie an den Angeln zurückhievte, damit das Loch begehbar wurde. Wir klammerten uns an den Rand und blickten hinunter. Ich meinte, zwanzig Fuß unter mir eine weiße Gestalt liegen zu sehen.
Statianus war dort gestern hinunterbefördert worden, über eine der berühmten schmalen Leitern des Schreins. Leitern von dieser Länge werden selten weit entfernt vom Einsatzort verstaut. Lampon und ich rannten wie gefangene Ratten durch das Heiligtum, bis wir sie fanden.
»Lass mich nicht im Stich, Lampon. Ich brauche dich, Mann. Ich steige da runter, aber du musst hierbleiben und die Leiter festhalten. Dann muss ich dich vielleicht losschicken, um Hilfe zu holen.«
Der dunkle Schacht war so grausig wie der Brunnenschacht, in den ich einst hinabgesenkt worden war. Trotzdem kletterte ich über den Rand und stieg die Leiter hinunter, fast ohne die Sprossen zu berühren. Ich hielt eine Lampe; brühheißes Öl spritzte mir auf die Hand. Ich bemerkte, dass ich in eine kegelförmige Höhle hinabstieg, geformt wie ein Brenn- oder Backofen. Der Durchmesser betrug wohl zehn Fuß und die Tiefe zweimal so viel. Faulige, modrige Luft schlug mir entgegen.
Als ich meine Füße auf den rauhen Lehmboden setzte, blickte ich nach oben. Ein fahler Halbkreis kennzeichnete die geöffnete Eingangstür. Lampons Kopf hob sich schwach vor dem fernen, mit Sternen übersäten Himmel ab. Ich brüllte zu ihm hoch, er solle auf keinen Fall die Tür schließen, was auch immer geschah.
Jetzt war nicht die Zeit für Panik. Ich sank neben der reglosen Gestalt zu Boden. Helena – zum Glück warm und immer noch atmend. Sobald ich sie berührte, meine Hände an ihren Armen entlanggleiten ließ, um sie wiederzubeleben, stöhnte sie und wehrte sich.
»Ich bin da. Ich hab dich …« Erleichterung und Freude erfüllten mich, als ich sie in die Arme nahm. Aus Prinzip fand ich ein paar tadelnde Worte. »Jetzt weiß ich, warum die Griechen ihre Frauen im Haus einsperren …« Aber ich wusste auch, warum sie es getan hatte. Sie hatte nicht vergessen, wie viele furchterregende Brunnen, Grabmäler und Untergrundschreine ich schon hatte überstehen müssen, und hatte mir eine weitere Portion Entsetzen in einem dunklen, beengten Raum ersparen wollen. Schließlich drückte ich sie nur fest an mich, vergaß ihre Torheit und dankte dieser wundervollen Idiotin für ihre Tapferkeit und ihre Liebe.
Dann hörten wir zornige Stimmen über uns. Die Wächter des Heiligtums schnauzten Lampon an. Er protestierte lautstark, aber wir hörten, wie er weggezerrt wurde. Jemand zog die Leiter hoch und knallte die Tür zu. Meine Lampe ging aus.
»Oh, tausend Dank, ihr Götter!«
»Nein, Marcus, das waren Menschen – Menschen, die ihre Mysterien schützen.«
»Wir müssen aufhören, uns in muffigen Gemäuern einkerkern zu lassen. Gerat jetzt nicht in Panik.«
»Ich bin vollkommen ruhig, Liebling – Marcus, Marcus, ich muss dir was erzählen. Ich weiß, wie sie es machen. Jemand haut ihnen eins über die Rübe.«
»Jemand hat
dich
geschlagen?«
»Nicht sehr doll …«
Ich strich ihr über den Kopf, tastete ihn nach einer Beule ab. Sie quiekte. Ich atmete heftig ein. Jeder, der Helena angriff, war so gut wie tot. Aber erst musste ich uns hier rausbringen und ihn finden.
Um sie ruhigzuhalten, während sie herumzappelte und unbedingt weiterreden wollte, machte ich bei ihren Enthüllungen mit. »Genau! Die armen Kerle, die Fragen haben, werden hierhergebracht, geschwächt vom Fasten. Sie sind von eiskaltem Wasser durchnässt, innen wie außen, daher ist ihr Gehirn eingefroren. Desorientiert durch Furcht, merken sie gar nicht, wenn jemand
aus
dem Spalt herausrutscht, in den sie sich hineinquetschen müssen.« Wo war dieser Spalt überhaupt?
»Nein, ich glaube nicht, dass hier drinnen jemand wartet oder hereinkriecht. Er würde bemerkt werden. Meine Theorie lautet, dass sie vor dem Geheimgang auf der Lauer liegen. Sie ziehen das Opfer mit den Füßen voran durch den Spalt, dann hauen sie ihm auf den Kopf und schieben ihn wieder zurück. Die Fragesteller sind angewiesen worden, Honigkuchen in beiden Händen zu halten, und so können sie sich nicht verteidigen«, plapperte Helena. »Und man hat ihnen gesagt, sie würden erleben, hilflos in den Spalt gesogen zu werden wie durch die Kraft des Flusses …« Sie zitterte vor Kälte, nachdem sie den ganzen Nachmittag hier
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