Delphi sehen und sterben
schwermütig und großäugig herumzutapern. Das warf einen dunklen Schatten auf die Tragödie. Ihr ein junges Mädchen auf einer Fernreise in die alleinige Obhut zu geben war sehr unklug gewesen. Was wir Caesius Secundus natürlich nie sagen würden. Er hatte genug zu ertragen, ohne sich Vorwürfe machen zu müssen, dieser unzuverlässigen Tante vertraut zu haben.
Sie war mehr als unzuverlässig, wie wir herausfinden sollten. Ich war froh, dass Helena zu uns gekommen war. Ich brauchte eine Zeugin. Helena würde mich unterstützen, wenn ich die Geschichte berichten musste. Nun konnte Caesius Secundus zumindest aufhören, sich Fragen zu stellen, obwohl die Wahrheit über das Schicksal seiner Tochter seine Aufgewühltheit nur verstärken würde. Wenigstens konnte er sich endlich damit abfinden, konnte die Knochen bestatten, die ich in dem Bleisarg gesehen hatte, und Schuld zuweisen, wenn er wollte.
»Meine Nichte und ich wollten Frieden und Einsamkeit genießen.« Das passte zu allem, was ich in Marcella Naevia gesehen hatte. Und ich beobachtete sie bereits besorgt. Ich fragte mich, ob das Mädchen auch eine Träumerin gewesen war. Vielleicht nicht.
Das vage Verhalten der Tante enthielt verborgenen Stahl. Ich konnte mir vorstellen, dass sie ihre viel jüngere Begleiterin auf heimtückische Weise überzeugt und Caesia zu diesem seltsamen Verhalten verlockt hatte. Wochenlang allein mit ihrer Tante, konnte eine vollkommen normale Jugendliche den Sinn für die Wirklichkeit verloren haben. »Wir stiegen auf den Kronoshügel, um mit den Göttern zu kommunizieren. Während wir dort waren, brach ein dramatisches Gewitter aus. Wir fühlten uns Zeus, dem Blitzeschleuderer, ganz nahe.«
»Das würde ich kaum als friedvoll bezeichnen«, murmelte ich. Wir hatten selbst erlebt, wie Gewitter um Olympia herum tobten.
»Wir befanden uns in einer anderen Dimension. Wir hatten uns weit von allen Menschen entfernt«, schwärmte Marcella Naevia. »Wir waren entkommen …« Sie hielt inne.
»Wem entkommen?«, blaffte Helena. »Ihre Nichte war jung, ein lebhaftes Mädchen«, ergänzte sie. »Ihr Vater beschrieb sie uns als neugierig auf die Welt – doch sie war – wie alt? – achtzehn, glaube ich. War sie unreif für ihr Alter? Ich meine, gesellschaftlich?«
Marcella Naevia nickte.
»Nehmen wir mal an«, drängte Helena weiter, »dass da ein Mann bei der Gruppe war, mit der Sie reisten, ein Mann, der sich an Frauen heranmachte, ein Mann, der sie betatschte und belästigte. Das wäre Marcella Caesia sehr unangenehm gewesen.«
»Ich sehe, Sie haben verstanden!« Die Tante sprudelte vor Dankbarkeit über.
»Na ja, mir wäre es genauso gegangen. Ich kann mir auch Ihre Rolle vorstellen. Sie haben versucht, das Mädchen zu beschützen. Sie beide haben sich für sich gehalten. Schließlich sind Sie auf den Kronoshügel gestiegen, um von ihm wegzukommen.«
»Ist er Ihnen gefolgt?«, warf ich ein.
»Nein, das ist er nicht.«
»Er hat sie also nicht ermordet?« So viel zu Theorien.
»Nein!« Die Tante wirkte fast schockiert von meiner Annahme.
Langsam erklärte ich dieser lachhaften Frau die Situation. »Ihr Vater glaubt, dass Marcella Caesia einem Lustmörder zum Opfer gefallen ist. Caesius Secundus wird von diesem Gedanken gequält. Wenn Sie etwas anderes wissen …«
»Es regnete stark.« Abrupt setzte Marcella Naevia ihre Erzählung fort. Sie verfiel in diesen tranceartigen Zustand, den ich so nervig fand. »Ich weiß, wie gefährlich es ist, sich unterzustellen, aber meine Nichte wollte nicht auf meine Warnungen hören. Sie hasste es, nass zu werden, kreischte und suchte Schutz unter einem Baum. Der Baum wurde vom Blitz getroffen. Sie war sofort tot.«
»Um Himmels willen!« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Wenn Sie das wussten, warum haben Sie es niemandem erzählt?«
Auch Helena war wütend. »Sie sind zu der Gruppe zurückgekehrt, haben an dem Abend nichts gesagt, aber am Morgen ein Riesentheater gemacht. Sie haben die geplante Weiterreise aufgehalten und alle dazu gebracht, auf die Suche zu gehen, obwohl Sie
wussten,
was mit Caesia passiert ist. Dann haben Sie Caesius Secundus ein ganzes Jahr lang seinem Gram überlassen, bis er selbst nach Griechenland kam und die Leiche fand. Sogar da, hat er uns gesagt, haben Sie noch vorgegeben, am Boden zerstört zu sein … Ein Wort von Ihnen hätte all das verhindern können. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
Die Stimme der Frau war kalt. »Ich beschloss,
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