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Delphi sehen und sterben

Delphi sehen und sterben

Titel: Delphi sehen und sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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Zeus habe sie zu sich geholt. Das war der Grund«, betonte Caesias Tante, als würde das jeder mit klarem Verstand erkennen, »warum ich sie dort ließ.«
    Ich war an unnatürliche Todesfälle gewöhnt, Todesfälle, die verheimlicht wurden wegen der grausamen Weise, in der sie herbeigeführt worden waren. Eine Leiche nach einem Unglück einfach zurückzulassen entsetzte mich viel mehr. »Sie haben Marcella Caesia einfach unter einem ausgebrannten Baum auf dem Kronoshügel liegen gelassen?«
    Marcella Naevia klang wieder träumerisch. »Ich habe ihre Gliedmaßen ausgerichtet. Ich habe ihr sanft die Hände über der Brust gefaltet. Ich habe sie mit Kiefernzapfen und Nadeln bedeckt. Ich habe sie geküsst und bei ihr gebetet. Dann ließ ich sie bei den Göttern, die sie so offensichtlich liebten, an diesem heiligen Ort.«
     
    LVIII
    Also kein Verbrechen.
    Da Camillus Aelianus einen Jurisprudenzexperten an der Hand hatte, würden wir diesen Punkt noch überprüfen, doch ich war mir sicher, was dabei herauskommen würde. Minas von Karystos würde bestätigen, dass nach dem Gesetz Caesias Tod ein natürlicher gewesen war. Wir konnten Zeus nicht verklagen.
    Natürlich war es verwerflich, was danach im Leben geschehen war. Im Leben würde kein geistig Gesunder, kein Barmherziger einem Vater das ordnungsgemäße Wissen über das Schicksal seines Kindes verweigern. Ihn daran hindern, seiner Tochter eine Bestattung und ein Grabmal zu geben. Ihn zu Jahren der Besessenheit und unendlicher geistiger Qualen verurteilen.
    Selbst in Athen, der Gemeinschaft, die demokratische Rechtsprinzipien begründet hatte, gab es eine breite Lücke zwischen Recht und Leben.
     
    Tief verstört und doch hilflos kehrten Helena und ich in die Stadt zurück.
    Wir überließen Marcella Naevia ihrem Hügeldasein. Wenn jemand sie für ihre Handlungsweise zur Rechenschaft ziehen wollte, würde er sie finden. Sie würde bleiben. Griechenland hatte sie für sich gefordert. Höchstwahrscheinlich würde sie ihr Einsiedlerleben ungehindert fortsetzen. Schlechte Ernährung und mangelnde Pflege würden ihr ein langes Leben verweigern. Träume und spirituelle Phantasien würden sie noch ein paar Jahre aufrecht halten, bis sie allmählich dahinwelkte, vielleicht versorgt von verwirrten Einheimischen.
    Die Leute würden glauben, sie hätte Geld (was vielleicht stimmte; sie musste einst wohlhabend gewesen sein). Das würde ihr die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft sichern.
    Wir hätten nicht mal sagen können, ob ihr bewusst war, dass die Leiche ihrer Nichte von dem verzweifelten Vater aus Olympia fortgebracht worden war. Beim Gespräch mit dieser Frau ließ sich nur schwer feststellen, welche Worte bei ihr ankamen und welche sie einfach auslöschte.
    Ich hielt sie nicht für verrückt. Auf ihre eigene Weise war sie vernünftig. Sie hatte sich aus reiner Abartigkeit zu etwas anderem gemacht. Meiner Ansicht nach sollte Marcella Naevia, falls sie strafbar war, ihres absichtlichen Rückzugs aus der normalen Gesellschaft angeklagt werden. Gute Römer respektieren die Gemeinschaft. Sie hatte nur an sich gedacht und dabei in Kauf genommen, Caesius Secundus zu zerstören. Er würde die Wahrheit erfahren, wenn Helena und ich nach Rom zurückkehrten, doch er würde sich nie vollständig von seiner langen Suche erholen. Einst hätte er vielleicht lernen können, mit dem durch ein Naturereignis ausgelösten Tod seiner Tochter zu leben, aber es waren zu viele Qualen dazwischengekommen. Er hatte sein Gleichgewicht für immer verloren. Für ihn war Seelenfrieden nun unwiederbringlich verloren.
    Helena meinte, jede Familie habe eine verrückte Tante. Aber nicht alle verursachen so viel Kummer oder fügen solchen Schaden zu.
     
    LIX
    Erschüttert und niedergedrückt, kehrten Helena und ich in unser Gasthaus zurück. In gedämpfter Stimmung erzählten wir unseren jungen Begleitern, was wir von Marcella Naevia erfahren hatten und was wir von ihrer Handlungsweise hielten. Wir gingen früh zu Bett.
    Der Abend war schwül, und wir waren alle gereizt. Wie zur Bestätigung wurden wir ein paar Stunden später wieder geweckt, als das Gewitter losbrach. Blitze zuckten durch meine Augenlider, gefolgt von kurzen Donnerschlägen. Als das Gewitter näher kam, wachte auch Helena auf. Wir lagen zusammen im Bett und lauschten dem einsetzenden Regen. Der Donner zog über uns hinweg, doch der Regen rauschte gleichmäßig weiter. Er passte zu unserer melancholischen Stimmung. Ich sank wieder in Schlaf,

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