Delphi sehen und sterben
beendete. Später mussten die Wettkampfrichter das Geld zurückzahlen, mit dem Nero sie bestochen hatte, und die Spiele fanden wieder in ihrem angestammten Vierjahresrhythmus statt – aber die Leute waren jetzt vollkommen verwirrt.
Als junge Männer waren die beiden Germanen in jenem berühmten kaiserlichen Jahr der Farce hier gewesen. Sie bestätigten, was wir gehört hatten – die Spiele zu besuchen kann ein Alptraum sein.
»Tausende von Menschen zusammengepfercht in ein provisorisches Dorf, das sie einfach nicht alle aufnehmen kann. Die Hitze ist unerträglich. Kein Wasser, keine öffentlichen Bäder, keine Latrinen, keine freien Unterkünfte – der Lärm, das Gedränge, der Staub, der Rauch, das stundenlange Schlangestehen …«
»Letztes Mal mussten wir unter einer an Büschen befestigten Decke schlafen. Die Zimmer in den Gästehäusern sind schon lange im Voraus an die reichen Sponsoren der Athleten vergeben und an die Besitzer der Streitwagenpferde, die natürlich noch reicher sind.«
»Und was habt ihr in diesem Jahr gemacht?«
»Ein anständiges germanisches Zelt mitgebracht.«
»Musstet aber feststellen, dass keine sportlichen Wettkämpfe stattfanden?«
»Ach, wir haben halt die magische Atmosphäre des Heiligtums genossen und uns fest vorgenommen, nächstes Jahr wiederzukommen.«
»Ist für euch ja eine ganz schön lange Reise.«
»Die Spiele sind etwas Besonderes!« Ihre Augen wurden glasig, aber das konnte auch am Wein liegen. »Der abgelegene, waldige Ort, die Atmosphäre der Hingabe, die ganze großartige Schau – die Siegesfeste …«
Wir fragten sie, ob sie davon gehört hatten, dass in diesem Jahr ein römisches Mädchen ermordet worden sei. Das schien sie zwar zu faszinieren, aber sie verneinten. Dann wies uns einer der Germanen feierlich darauf hin, dass es kein Ort für ein Mädchen sei. »Frauen werden während der Spiele traditionell vom Austragungsort verbannt.«
»Außer Jungfrauen – und wo gibt’s die schon?« Sie lachten beide mit kernigem germanischem Humor.
Wir lächelten höflich, fühlten uns aber überlegen. Nun ja, wir waren Römer und sprachen mit Ausländern aus einer unserer Provinzen. Sie waren fröhliche Burschen, aber es war unsere Pflicht, sie zu zivilisieren. Wobei ich allerdings keine Anzeichen sah, dass sie sich diesem Prozess unterwarfen.
Unser Unbehagen konnte nur schlimmer werden. Wir befanden uns jetzt in der Wiege der Demokratie, die wir uns vor ein paar Jahrhunderten unter den Nagel gerissen hatten. Nirgends im Imperium fühlten sich Römer so fehl am Platz wie in Griechenland. Einem Land Demokratie aufzuzwingen, das diese bereits besaß, warf ein paar Fragen auf. Die Urheber der größten Ideen der Welt niederzuknüppeln (und diese Ideen unverfroren zu klauen) machte uns nicht stolz. Auf dieser Reise würden wir zwangsläufig viel Zeit damit verbringen, hochmütig zu sein. Das war unsere einzige Verteidigung.
Ich begriff allmählich, warum Sieben Stätten seine Reisegruppen in den Jahren herbrachte, in denen keine Spiele stattfanden – um die grauenhaften Bedingungen zu vermeiden, die uns gerade beschrieben worden waren. Und wenn Frauen nach wie vor nicht ins Stadion und ins Hippodrom durften, wäre es in olympischen Jahren für weibliche Reisende ziemlich langweilig. Nachdem die Römer nun in dieser Provinz das Sagen hatten, hätte die Nur-Männer-Regel abgeschafft werden können, doch ich wusste, dass die Römer dazu neigten, die Griechen sich selbst zu überlassen. Die Kaiser wollten ihre eigenen großen Feste, abgehalten in Rom, um ihr Prestige zu erhöhen. Sie waren nicht daran interessiert, die alten hellenistischen Zeremonien zu modernisieren. Sie legten ein Lippenbekenntnis zur Geschichte ab, sahen es aber gerne, wenn konkurrierende Attraktionen ausstarben.
Wir konnten die Tatsache übersehen, dass einer unserer eigenen Herrscher die Bewertungskriterien herabgewürdigt hatte. Ich fragte mich, wie die kaiserliche Haltung sein würde, wenn Olympia einen gewalttätigen Ruf bekäme. Würde es Vespasian, der Verfechter von Familienwerten, auf sich nehmen, hier mal richtig aufräumen zu lassen?
Wahrscheinlich nicht. Das Problem wäre ein griechisches. Und wenn die Opfer Römer waren, würde man sagen, sie hätten Unheil über sich selbst gebracht. Wir würden die alten Ausreden zu hören bekommen: Außenseiter, die sich nicht nach den örtlichen Bräuchen gerichtet hätten. Querulanten, die es sich selbst zuzuschreiben hatten.
Weitere Kostenlose Bücher