Delphi sehen und sterben
nie eine Gelegenheit aus, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie wenig sie über ihre Ursprünge wusste. Sie hatte keinen Geburtstag. Wir wussten nicht genau, ob sie fünfzehn, sechzehn oder siebzehn war. »Aulus hat die Leute zu mies klingen lassen. Das hätte mir nicht gefallen.«
»Angenommen, du wärst Valeria und würdest genau das empfinden. Hättest du dich von irgendwelchen organisierten Unternehmen ausgeschlossen?«
»Was konnte sie schon machen? Allein im Zelt zu bleiben wäre keine gute Idee gewesen. Wenn irgendein Mann gewusst hätte, dass Valeria ganz allein war …«
»Stimmt. Während die männlichen Touristen sich sportlichen Dingen widmeten, wären Valeria und die anderen Frauen der Gruppe manchmal zusammen herumgeführt worden.«
»Vielleicht mochte sie diese Frauen nicht.«
»Wenn man mit einer geführten Gruppe reist, muss man mit seinen Reisegefährten klarkommen, Albia, wer auch immer sie sind. Was meinst du, wie die Frauen sich beschäftigt haben? Es gibt Dichter und Musiker, die man sich anhören kann.«
Albia verzog das Gesicht. »Man könnte Besichtigungen machen, so wie wir das gestern getan haben. Valeria könnte allein losgezogen sein – aber das wäre nicht ungefährlich gewesen.«
»Weil Männer sie angequatscht hätten?«
»Du weißt, dass sie das tun würden, Marcus Didius.«
Das stimmte ebenfalls. Eine junge Frau würde sofort zur Zielscheibe werden. Männer, die allein bei einem Heiligtum herumlungerten, waren definitionsgemäß seltsame Typen. Männergruppen konnten noch bedrohlicher sein. Wir wussten nicht, ob Valeria Ventidia hübsch gewesen war, aber sie war neunzehn. Einen Ehering zu tragen wäre keine große Hilfe gewesen.
»Wenn sie allein gesichtet wurde, hätte man angenommen, dass sie die Aufmerksamkeit von Männern suchte. Natürlich«, murmelte Albia hinterhältig, »könnte Valeria das gefallen haben.«
»Albia, ich bin schockiert! Valeria war eine Braut.«
»Sie hat geheiratet, weil man es ihr befahl.«
»Und Aulus behauptet, ihr Gatte sei ein Blödmann!«
Albia kicherte. »Warum für so einen Mann keusch bleiben?«
Vielleicht, weil es sich in einem Heiligtum wie diesem rasch herumsprach, wenn man das nicht tat.
XII
Da ich mir meiner Verantwortung mehr als sonst bewusst war, brachte ich Albia sicher ins Leonidaion zurück, wo ich sie bat, nach Helena zu schauen. Ich hatte mich mit dem jungen Glaucus verabredet. Es gab ein großzügiges neues römisches Vereinshaus, gestiftet von Kaiser Nero nach seinem Besuch vor zehn Jahren, aber seit Neros Tod unvollendet. Also ging ich zur alten Palästra, in die sich Glaucus gestern eingeschlichen hatte. Auf dem Weg dorthin ließ ich die Werkstatt des Pheidias und den Schrein des unbekannten Helden rechts liegen. Zu meiner Linken befand sich ein Badehaus mit einem riesigen Schwimmbecken im Freien. Ein Pförtner verwehrte mir den Einlass in die Sportstätte, und so wartete ich, bis jemand ihn ablenkte, und schlüpfte an ihm vorbei. Eine Aufnahmegebühr für diesen Elite-Sportverein konnte ich Claudius Laeta und den Rechnungsprüfern des Palatin keinesfalls aufs Auge drücken. Meine offiziellen Reisekosten reichten kaum für ein Brötchen pro Tag.
Die überdachten Sportstätten von Olympia waren so grandios, wie man es erwartet hätte. Gestern hatten wir die meiste Zeit damit verbracht, das Gymnasion zu bewundern; diese luxuriöse Einrichtung besaß einen dreibogigen Eingang, der in einen riesigen Innenraum führte, wo auf einer Laufbahn über die volle Distanz trainiert werden konnte, ohne Regen oder starker Hitze ausgesetzt zu sein. Der Raum war so groß, dass im mittleren Bereich Diskus- und Speerwerfen geübt werden konnten, selbst wenn am Außenrand Laufwettkämpfe ausgetragen wurden.
An das Gymnasion schloss sich die Palästra an – intimer, aber trotzdem beeindruckend. Sie besaß vier große Kolonnaden, von denen jeweils Räume für verschiedene Funktionen abgingen, rund um einen riesigen, nach oben offenen Trainingsplatz.
In einem der Vorbereitungsräume ölten sich die Athleten ein oder wurden von ihren Trainern eingeölt – oder ihren Geliebten. Ein anderer enthielt Kästen mit feinem Staub, der über das Öl geschüttet wurde. Den Staub gab es in verschiedenen Farben. Nach dem Training wurden Staub, Öl und Schweiß abgekratzt. Da es anderswo im Komplex voll ausgerüstete Badehäuser gab, waren hier nur einfache Waschgelegenheiten vorhanden – ein schlichter Strigilis-und-Abspritzraum und ein
Weitere Kostenlose Bücher