Delphi sehen und sterben
schnörkellose Epistel verfasst; Erklärungen waren nicht seine Stärke. Das verhieß nichts Gutes für seine Karriere als Anwalt, sollte er sie je aufnehmen.
Er musste davon ausgegangen sein, dass wir nach Olympia reisen würden, weil dort die Todesfälle stattgefunden hatten, und da danach Korinth in etwa auf der Linie von Athen lag, würden wir dort auf unserem Weg, ihn zu besuchen, haltmachen. Er war davon überzeugt, wir hätten, wenn wir schon in Griechenland wären, nichts anderes im Sinn, als ihn zu finden. Der Gedanke, dass er, Aulus Camillus Aelianus, der faule Jurastudent, während einer Mörderjagd nicht meine Priorität sein würde, kam ihm gar nicht. Es gab Zeiten, in denen ich diesen Kerl nicht leiden konnte; jetzt verzweifelte ich nur.
Nachdem er seiner Hoffnung Ausdruck gegeben hatte, wir wären wohlauf (eine Höflichkeitsfloskel, die nur bedeuten konnte, dass ihm bereits das Geld ausging), hatte er den Rest seines Berichtes chiffriert. Weder Helena noch ich hatten Kodebücher mitgebracht, aber Aulus benutzte anscheinend stets dasselbe System, und Helena Justina konnte es sich durch ein oder zwei Stellen zusammenreimen, an die sie sich erinnerte. Ich lag entspannt auf dem Bett, spielte zärtlich mit Teilen von Helena, die in meine Reichweite kamen, während sie sich stirnrunzelnd über die Schriftrolle beugte und meine vorwitzigen Hände abwehrte. Viel zu schnell für meinen Geschmack hatte sie den Kode geknackt. Ich sagte, ich sei froh, nie ein Tagebuch mit Einzelheiten über Affären mit drallen Mätressen geführt zu haben. Helena meinte glucksend, sie wisse doch, dass ich kein Tagebuch führe (hatte sie etwa danach gesucht?), und wie gut es sei, dass ich die ihren nicht lesen könne, weil sie immer einen äußerst schwierigen Kode verwende. Irgendwann wandten wir uns wieder dem Tagesgeschehen zu.
Aulus hatte beschlossen, Tullius Statianus für unschuldig zu halten. Sollte das bedeuten, dass Statianus die Jagd und Festmahle genauso liebte wie Aulus? Lebemann oder nicht, der leidtragende Ehemann fand nun, er müsse die Verantwortung für die Aufklärung des grausigen Todes seiner Frau übernehmen. Statianus bediente sich dazu jedoch nicht unseres Vorgehens logischer Ermittlungen, sondern war nach Delphi gereist, um das Orakel zu befragen.
»Ach du Scheiße!«
»Sei nicht so skeptisch«, ermahnte mich Helena. »Viele Menschen glauben daran.«
Ich beschränkte mich auf die ätzende Bemerkung, viele Menschen seien Idioten.
»Überhaupt etwas zu tun könnte ihn beruhigen, Marcus.«
»
Das
zu tun wird ihm das Geld aus der Tasche ziehen und ihn verrückt machen.«
Wir hatten es mit Reisenden zu tun, die auf der Suche nach uralten Mysterien nach Griechenland gekommen waren, und so passte Statianus’ Pilgerfahrt durchaus dazu. Selbst ich musste einräumen, dass er durch die klassischen Gefühle der Hilflosigkeit tief erschüttert und am Boden zerstört war. Aulus hatte versucht ihm unsere Hilfe zu versprechen, hatte aber die Möglichkeit eingestehen müssen, dass seine Briefe uns nie erreicht hatten. Daher waren die beiden Männer zusammen nach Delphi gereist. Dort hatten sie entdeckt, was nur selten in Reiseführern erwähnt wird: Bloß ein Tag im Monat ist den Prophezeiungen vorbehalten – und, schlimmer noch, nur Nationen, bedeutende Städte und reiche Personen von extremer Wichtigkeit pflegen die Gewinner bei der unvermeidlichen Lotterie der Fragesteller zu sein.
»Man muss für Apollons Orakel Schlange stehen?«
»Wahrheit ist wertvoll, Marcus. Sie müssen sie rationieren.«
Angesichts dessen, dass traditionsgemäß niemand die Prophezeiungen verstehen kann, musste das die Verzweifelten mit doppelter Härte treffen.
Aulus hatte noch nie besonderes Durchhaltevermögen gezeigt. Da das Orakel eine Zeitverschwendung zu sein schien, gab er auf. Ohne ein Anzeichen von Scheinheiligkeit schrieb er seiner skeptischen Schwester, er halte es jetzt für angebracht, den Wünschen seiner Eltern nachzukommen und sich auf den Weg zur Universität zu machen. Helena schnaubte. Belustigt stellte ich mir die Reaktion ihrer Eltern vor. Wir nahmen an, dass Aulus, nachdem er die Zeusstatue in Olympia gesehen und das Heiligtum von Delphi erforscht hatte, es an der Zeit fand, seiner Wunschliste berühmter Sehenswürdigkeiten noch den glorreichen Parthenon hinzuzufügen.
Statianus, der verstörte Bräutigam, war zurückgelassen worden und wartete immer noch auf eine Chance, der Pythia eine Bleitafel mit der
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