Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
zärtlicher sein«, sagte Herr Weller nach einigem Bedenken. »Jetzt lies weiter, Sammy!«
»›Fühle mich beschämt und gänzlich verzaubert, indem ich an Sie schreibe, denn Sie sind ein gar zu hübsches Kind, wie es kein zweites gibt.‹«
»Das ist ein sehr hübscher Gedanke«, sagte Herr Weller senior, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm, um seiner Bemerkung Platz zu machen.
»Ja, ich denke, es ist nicht übel«, bemerkte Sam, höchlich geschmeichelt.
»Was mir an dieser Art zu schreiben besonders gefällt«, sagte Herr Weller senior , »ist, daß keine solche fremde Namen darin vorkommen, keine Venusse und dergleichen: denn sag’ einmal Sammy, wozu braucht man denn ein junges Mädchen eine Venus oder einen Engel zu heißen?«
»Ihr habt ganz recht«, erwiderte Sam.
»Ebensogut könntest du sie einen Greif oder ein Einhorn nennen, was doch bekanntlich bloß Fabeltiere sind«, fügte Herr Weller hinzu.
»Ganz richtig«, erwiderte Sam.
»Jetzt fahr fort, Sammy«, sagte Herr Weller.
Sam erfüllte diesen Wunsch und las, während sein Vater rauchend und mit einem höchst erbaulichen, gemischten Ausdruck von Weisheit und Wohlgefälligkeit ihm zuhörte.
»›Bevor ich Sie sah, meinte ich, alle Mädchen seien einander gleich –‹«
»Das sind sie aber auch«, bemerkte Herr Weller senior zwischendurch.
»›Jetzt aber‹«, fuhr Sam fort, »›sehe ich erst ein, was ich für ein hirnverrückter, abgeschmackter Dummerjan gewesen bin, denn es gibt kein Mädchen, das Ihnen gliche, und ich liebe Sie mehr als die andern alle zusammen.‹«
»Ich hielt es für gut, mich etwas stark auszudrücken«, sagte Sam aufschauend.
Herr Weller nickte beifällig. Sam las weiter:
»›So nehme ich mir denn, meine geliebteste Marie, das Privilegium dieses Tages – wie jener verschuldete Edelmann tat, als er Sonntags ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das
erste und einzige Mal, als ich Sie sah, weit schneller und in glänzenderen Farben meinem Herzen eindrückte, als je ein Bild von der Silhouettiermaschine aufgefaßt wurde. (Sie haben vielleicht auch schon davon gehört, liebste Marie, obgleich diese ein Portrait nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen in zwei und einer Viertelminute fix und fertigt macht.)‹«
»Ich besorge beinahe, Sammy, dies streift wieder ans Poetische,« sagte Herr Weller bedenklich.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sani, der jetzt sehr schnell las, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden.
»›Nehmen Sie mich als Ihren Verehrer an, schönste Marie, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Marie, jetzt will ich schließen.‹ – Das ist alles«, setzte Sam hinzu.
»Das heiß ich aber gar zu schnell abgebrochen, Sammy«, meinte Herr Weller.
»Bewahre«, erklärte Sam. »Sie wird wünschen, es käme noch mehr, und eben darin besteht die große Kunst de« Briefschreibens.«
»Nun gut«, antwortete Herr Weller; »das ist nicht ganz ohne, und ich wünschte nur, deine Stiefmutter möchte sich zu eben so vernünftigen Grundsätzen bekennen. Willst du deinen Namen nicht unterzeichnen?«
»Eben da steht die Kuh vorm neuen Tor«, sagte Sam: »ich weiß nicht, wie ich unterzeichnen soll.«
»Schreib: Weller«, erklärte der älteste der noch lebenden Träger dieses Namens.
»O nein«, sagte Sam. »Man darf einen Liebesbrief nie mit dem eigenen Namen unterzeichnen.«
»So schreib: Pickwick«, meinte Herr Weller: »das ist ein sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.«
»Ihr habt recht«, sagte Sam. »Da könnte ich auch mit einem Verse schließen. Was haltet Ihr davon?«
»Das will mir nicht gefallen, Sam«, versetzte Herr Weller. »Ich habe nie einen ehrenwerten Kutscher kennengelernt, der in Versen geschrieben hätte, außer einen. Der setzte in der Nacht, ehe er wegen Straßenraubs gehenkt wurde, herzzerbrechende Verse auf. Aber das war bloß ein Camberweller , und muß also als eine Ausnahme betrachtet werden.«
Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, nicht abbringen, und unterzeichnete den Brief:
»Von Lieb’ berückt Ihr Pickwick. «
Sodann faltete er das Schreiben auf höchst umständliche Art zusammen und schrieb in einem schiefen Winkel die Adresse: ›An Marie, Hausmädchen bei Herrn Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk‹. Dann versiegelte er es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Als dies wichtige Geschäft beendet war,
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