Dem Himmel entgegen
sie. “Und unzählige Pferde ließen ihr Leben. Man sagt, dass Flüsse aus Blut über das Schlachtfeld flossen, das bedeckt war von den Körpern der niedergemetzelten Männer und Tiere. Nachdem alles vorüber war, tat die Armee ihr Bestes. Sie beerdigten die Männer, doch die Kadaver der Pferde blieben auf dem Feld zurück. Einen Tag, nachdem die Schlacht zu Ende war, kamen die ersten Geier und reinigten das Feld. Von Tag zu Tag erschienen mehr von ihnen. Sie kamen von überall her. In jenem Winter blieben sie, wahrscheinlich, weil sie eine sichere Futterquelle hatten. Seitdem kommen jedes Jahr mehr als neunhundert Raben- und Truthahngeier zurück in den Gettysburg National Park.”
Während Ella der Geschichte lauschte, beobachtete sie, wie weitere Geier über ihren Köpfen kreisten. Mit ihren schwarzen, breiten Schwingen schwebten sie über ihnen und betrachteten, was am Boden geschah. Als Ella und Maggie den Stall in der Mitte des umzäunten Geländes erreichten, hatten sich die Vögel ein wenig zurückgezogen, blickten die beiden Frauen aber immer noch aufmerksam an.
“Okay”, sagte Maggie und öffnete das Tor zum Stall. “Lass uns sehen, wie die Tweedles ihre neue Unterkunft annehmen. Willkommen in eurem neuen Zuhause, ihr Lieben.”
Es dauerte nicht lange, bis sie den Stall für die Geier hergerichtet und eine Mahlzeit ausgelegt hatten. Anschließend ließen sie die Waisenkinder innerhalb der Umzäunung zurück. Bevor sie verschwanden, leerten sie noch den Eimer mit den Überresten ein paar Meter vom Stall entfernt aus.
Ella kräuselte die Nase. “Auch wenn die Geier keinen so ausgeprägten Geruchssinn haben – das hier riechen sie bestimmt.”
“Oh, sie haben es schon wahrgenommen”, sagte Maggie, die das Rascheln der Federn in den umstehenden Bäumen hörte.
Sie hatten die Lichtung noch nicht verlassen, als die Geier sich bereits auf das Aas stürzten und zu fressen begannen. Einige Minuten später kamen die beiden Waisen langsam näher an den Zaun, näher zu den erwachsenen Tieren, um zu sehen, was den Tumult verursachte.
Maggie und Ella lächelten zufrieden.
“Die Natur findet ihren Weg”, sagte Maggie.
Am folgenden Morgen erhielt Harris einen unerwarteten Anruf.
“Hallo, Mr. Henderson? Hier spricht Madeline Dreskin. Ich bin Beraterin an der Lincoln Highschool. Ich rufe Sie wegen eines Schülers an, der zu mir kam, weil er auf dem Schulhof eine Schlägerei angezettelt hatte. Hätten Sie ein wenig Zeit, um zu mir ins Büro zu kommen? Der Schüler heißt Brady Simmons.”
Harris fuhr noch vor dem Mittagessen zur Lincoln Highschool. Ella hatte ihn überredet, eine Krawatte umzubinden, die sich wie eine Schlinge um seinen Hals anfühlte. Nun saß er auf einem harten Plastikstuhl und wartete darauf, dass Miss Dreskin ihren vorherigen Termin beendete. Seit vielen Jahren war Harris nicht mehr in der Highschool gewesen. Waren die Jungs schon immer so groß und muskulös gewesen? fragte er sich. Und die Mädchen … Einige von ihnen sahen wie erwachsene Frauen aus und hatten sich auch so gekleidet. Er fühlte sich plötzlich wie ein alter Mann mit seinem Schlips und seinem gebügelten Hemd unter all den Jugendlichen in Jeans und T-Shirt, mit ihren Tattoos und Piercings.
Endlich öffnete sich die Bürotür, und ein schlanker blasser Junge mit Akne im Gesicht schlich mit gesenktem Blick aus dem Zimmer, so als wäre es ihm peinlich, beim Verlassen des Lehrerzimmers gesehen zu werden.
“Mr. Henderson?”
Er stand auf, um sie zu begrüßen. Miss Dreskin sah nicht viel älter als die Schüler aus. Sie war zierlich und sportlich-attraktiv. Ihre Kleidung jedoch und ihr Oxford Shirt unterschieden sie von den Jugendlichen – wie es die Krawatte von Harris auch tat –, und als er näher kam, um ihre Hand zu schütteln, erkannte er feine Fältchen auf ihrer sonnengebräunten Haut. Trotzdem vermutete er, dass eine ganze Menge liebestoller Schüler ihr den Hof machten.
Nachdem sie sich auf die typischen staatlich finanzierten Schulstühle gesetzt hatten, faltete sie die Hände auf der Akte auf dem Tisch und blickte ihn ernst an.
“Ich muss ehrlich sagen, dass es sich um einen komplexen schwierigen Fall handelt”, begann sie. “Im ersten Moment war ich der Meinung, Brady Simmons sei einer der armen abgehärteten Jugendlichen, die keinen Respekt vor Autoritäten haben, die sich nicht um ihre Zukunft scheren und hier nur ihre Zeit absitzen, bis sie endlich die Schule beenden. Ich kenne eine Menge
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