Dem Himmel entgegen
zugebracht, Papierherzen auszuschneiden”, erwiderte sie.
“Ich habe Buchstaben geübt”, erklärte Marion.
Ella wies schmunzelnd auf das große Papierherz an ihrer Bluse mit den schiefen Buchstaben darauf.
“Sehr beeindruckend.”
“Und ich habe meine Tanten angerufen”, fügte Ella hinzu. “Um ihnen alles Liebe zu wünschen. Sie haben sich so über den Anruf gefreut. Ich vergesse immer, dass sie älter werden und sich um mich sorgen.”
“Wie alt sind sie denn?” wollte Marion wissen.
“Sehr alt. Sie verraten ihr Alter nie, und ihre Geburtsurkunden hüten sie wie ein Staatsgeheimnis. Sie sind die Häuptlinge der Majors-Familie. Sie nennen sich
Die Jungfern.”
“Warum?” fragte Marion.
“Sprich nicht mit vollem Mund, Süße. Weil sie nie geheiratet haben”, antwortete sie und dachte, dass die Sache mit dem Ledigbleiben in der Majors-Familie wohl vererbbar sein musste.
“Niemals?”
“Niemals. Gerüchte besagen, dass Tante Rhoda vor dem Altar stehen gelassen wurde. Das war damals ein großer Skandal. Ich weiß nicht, wie es bei Tante Eudora war. Sie spricht nicht darüber. Es ist alles streng geheim. Ihr ganzes Leben haben sie in dem Haus verbracht, sie sind sogar dort geboren worden. Sie haben sich um meinen Großvater, ihren Vater, gekümmert, nachdem meine Großmutter gestorben war. Dann, nachdem er einige Jahre später auch verstarb, machten sie aus dem großen alten Haus einen Gasthof. Das war eine wirklich gute Lösung. Ihr halbes Leben haben sie damit verbracht, sich um andere zu sorgen. Meine lieben Tanten Rhoda und Eudora … Ihre Wärme und Lebhaftigkeit ist ansteckend, und sie bringen Freude und Lachen in das Victorian Inn. Alle Gäste sind sehr glücklich, wenn sie erst einmal dort waren.”
Sie lachte leise und dachte liebevoll an ihre beiden poltrigen Tanten, die sie als Kind manchmal für ausgesprochen dumm und laut gehalten hatte. Ihre Tanten lebten für den Augenblick, und wenn sie einen Fehler hatten, war es ihre Extravaganz. Sie liebten die Schönheit in jeglicher Form. Ella hatte stets insgeheim geglaubt, dass sie in dieser Hinsicht eine Enttäuschung für sie war. Als sie zum ersten Mal zu ihren Tanten nach Hause kam, war sie nicht älter als Marion jetzt. Sie hörte zufällig, wie ihre Tante Eudora sagte: “Ella sieht ein bisschen wie eine kleine Maus aus, findest du nicht? Wie schade, dass das liebe Mädchen von ihren Eltern gerade die schlechtesten Merkmale erben musste.”
Ella hatte sich in jener Nacht in den Schlaf geweint, nicht weil sie meinte, es sei gemein, was ihre Tante gesagt hatte, sondern weil sie dachte, es sei wahr. Zwar hatte sie die großen braunen Augen ihres Vaters, aber sie standen weit auseinander und waren von den kurzen Wimpern ihrer Mutter umrahmt, die so blass waren, dass sie fast nicht da zu sein schienen. Ihre Nase war gerade, aber spitz. Ihr Mund war breit, wie der ihrer Mutter, aber ihre Lippen waren so dünn wie die ihres Vaters. Und obwohl ihr Haar nicht so blond wie das ihrer Mutter und auch nicht so kastanienbraun wie das ihres Vaters war, sondern tatsächlich an ein Mausbraun erinnerte, war sie stolz darauf. Es war dick und glänzend und reichte ihr fast bis zur Taille. Wie ein prächtiger Schleier aus schimmernder Seide fiel es ihr über den Rücken. Dieses ganz besondere Merkmal war das Erbe eines Vorfahrs, an den die Tanten sich nicht mehr erinnern konnten.
Und auch wenn sie über ihr Aussehen nicht besonders glücklich war, so hatte sie doch die scharfe Intelligenz ihres Vaters und den Klugheit ihrer Mutter geerbt, und für diese Gaben war sie beides – stolz und dankbar.
“Was ist mit deiner Mommy und deinem Daddy?” fragte Marion. “Sind die alt?”
“Oh, nein. Sie starben, als ich noch ganz klein war.”
Marion blickte erschreckt auf.
“Es ist schon gut”, beeilte sich Ella, das Kind zu beruhigen. Sie wusste, dass Marion an ihre eigene Mutter dachte. “Das ist schon lange her, und ich habe mich damit abgefunden.”
“Was ist mit ihnen passiert?”
Obwohl Marion die Fragen stellte, konnte Ella an Harris’ Miene ablesen, dass auch er neugierig war.
Sie legte ihre Pizza auf den Teller zurück und wischte sich die Hände ab. “Mein Vater war Doktor. Meine Mutter arbeitete bei ihm als Krankenschwester. Jeden Tag fuhren sie über den Wallingford-Berg nach Rutland und wieder zurück, denn in Rutland war ihre Praxis. Manchmal mussten sie nachts schnell zur Klinik fahren, wenn es einen Notfall gab. Sie waren nicht
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