Dem Himmel entgegen
nie jemanden kennen gelernt, der so kraftvoll und lebendig war und so begierig zu teilen. Und auf so eigene Art schön …
Ella. Er lachte leise und schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie war wie ein Terrier. Klein, entschlossen – und dickköpfig. Du liebe Zeit, hatte er jemals eine Frau gekannt, die ähnlich dickköpfig war? Sie hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Alles, was er gesucht hatte, war Hilfe und Unterstützung im Umgang mit Marion. Er hatte gehofft, das tägliche Leben besser meistern zu können, weniger Wutausbrüche durchstehen zu müssen und mehr Harmonie und Frieden in sein Haus zu bekommen. Ella hatte all das in sein Leben gebracht, das war sicher. Aber sie hatte noch so viel mehr getan.
Sie hatte die Freude zurückgebracht. Obwohl er da war. Marion war nicht die eigentliche Herausforderung gewesen – er war es.
Ella. Was sollte er mit seinen Gefühlen für sie machen, fragte er sich, als er langsam weiterlief. Er konnte sie nicht länger verleugnen. Sogar ein fünfjähriges Kind hatte erkannt, wie es um ihn stand. Nächtelang hatte er sich in seinem Bett hin und her gewälzt oder mit hinter dem Kopf verschränkten Armen dagelegen, an die Decke gestarrt und den Liebesliedern der Vögel zugehört. Dabei hatte er sich gefragt, ob sie in ihrem Bett, den Flur runter, diesen wunderbaren Melodien wohl auch lauschte. Gott, er war nicht besser als die Tausende von liebestollen, testosteronschwangeren Singvögel, die etwas für sich beanspruchten. Er seufzte, und seine Sohlen bohrten sich in den weichen Boden, während er entschlossen weiterlief. Dies war eine Komplikation, mit der er nicht gerechnet hatte. Er hatte nicht nach der Liebe gesucht.
Aber die Liebe hatte ihn gefunden.
Harris hatte gerade seinen Rundgang beendet, als er eine tiefe Stimme aus Richtung der medizinischen Station kommen hörte. Leise drang der Bass an sein Ohr. Er erkannte einen Gospel der Gullah, den er schon als Kind gehört hatte. Er folgte dem Gesang zur Voliere 3 und wunderte sich nicht, Lijah auf dem Boden von Santees Käfig sitzen zu sehen. Was ihn allerdings erstaunte, war, den Adler schlummernd auf einer Sitzstange nur wenige Zentimeter von Lijah entfernt zu entdecken. Das Tier hatte die Federn aufgeplustert und schien ganz ruhig zu sein.
Als Harris näher kam, hob Santee ihren mächtigen Schnabel und plusterte ihr Federkleid auf, als sie ihn mit ihren gelben Augen anblitzte. Harris senkte den Blick und zog sich ein wenig zurück, und Santee beruhigte sich ein bisschen. Ihre Augen beobachteten jedoch aufmerksam jede seiner Bewegungen. Lijah sah auf und strahlte ihn mit seinem breiten, offenen Lächeln, das so typisch für ihn war, an.
“Ich schwöre Ihnen Lijah, dass ich niemandem erzählen kann, was ich gerade gesehen habe, ohne dass die Menschen denken würden, sie belegen die Tiere mit einem Voodoozauber.”
Lijah grinste, als er über die Idee nachdachte. “Ach, das mache ich schon lange nicht mehr. Ich habe mal Voodoo praktiziert. Als es meiner Frau so schlecht ging. Man musste bestimmte Wurzeln kauen und dergleichen.” Sein leichtes Achselzucken erzählte den Rest der Geschichte. “In meinem Herzen wusste ich, dass alles so kommen musste, wie es vorherbestimmt war.” Er drehte langsam seinen Kopf und betrachtete den Adler. “Zwischen mir und Santee gibt es keinen geheimen Zauber”, sagte er, und man konnte seiner Stimme anhören, wie sehr er den Vogel liebte. “Wir sind nur Freunde. Ich mache mir Sorgen um sie. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.”
“Etwas stimmt nicht? Wie meinen Sie das?”
“Das kann ich nicht genau sagen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich Santee morgen noch einmal ansehen könnten.”
In Lijahs Augen flackerte die Sorge um den Adler auf – die Sorge, die auch ein Vater für sein Kind fühlte. Plötzlich erinnerte sich Harris daran, wie er gelitten hatte, während er in der Notaufnahme gesessen und auf Nachrichten von Marion gewartet hatte. Diese tiefe Angst hatte er vorher nicht gekannt.
“Können Sie sie als Erste morgen früh zu mir bringen?”
“Wir werden da sein.”
Harris sah den Adler an. Auf ihn wirkte Santee ganz gesund und munter. Doch wenn er darüber nachdachte, hatte auch Maggie erzählt, dass das Tier in den letzten Tagen mehr Futter übrig gelassen hatte als sonst. Und wenn Lijah sagte, dass etwas mit dem Adler nicht stimmte, dann war das auch so.
“Dieser Vogel ist in Sie vernarrt”, sagte er und trat näher an den Käfig heran.
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