Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Familie durch den Tiefschnee getrieben, alle seien durchnässt und völlig erschöpft gewesen, alle hätten hinter dem Rücken auf die despotische Art des Vaters geschimpft, aber nur Andreas habe es gewagt, ihn darauf anzusprechen, während alle anderen sich plötzlich auf Seiten des Vaters gestellt hätten. »Das hat ihn schwer getroffen«, so der Verteidiger. Doch Arno M. kann sich auch nach wiederholter Nachfrage nicht an diesen Streit erinnern.
Frederik schaut die ganze Zeit nach unten. Erst als Arno M. fertig ist und entlassen werden soll, sagt er ein paar Worte, bemüht darum, nicht zu schluchzen. »Ich möchte sagen, dass es mir leid tut.« Und er fügt hinzu: »Meine Entschuldigung klingt lächerlich vor dem Hintergrund, was ich dir angetan habe.«
Rund zwei Stunden gibt danach der 27-jährige Gustavo P., Ann-Christins Freund, Auskunft. Er ist ein gewissenhafter, umsichtiger junger Mann, arbeitet als Pflegedienstleiter auf einer Station für Demenzkranke und Schizophrene. Schwierige Charaktere sind ihm vertraut. Er kannte Ann-Christin seit 2002, war ein Teil der Familie, die Eltern hatten ihn längst als zukünftigen Schwiegersohn anerkannt.
Der Vorsitzende Richter fragt, ob Ann-Christin ihm jemals von schwerwiegenden Problemen in der Familie berichtet habe. P. verneint. »Chrissi hat mir immer alles erzählt, aber so etwas nie.«
Jetzt schaltet sich auch der psychiatrische Gutachter ein, befragt Gustavo P. und Arno M. nachdrücklich nach ihren Erinnerungen: »Wie haben Sie die Atmosphäre innerhalb der Familie empfunden?«
Gustavo P. sucht den Blickkontakt zu den beiden Angeklagten. Doch Frederik starrt die ganze Zeit auf die Tischplatte. Andreas H. schreibt unentwegt Notizen.
»Die Familie hat zusammengehalten«, antwortet P., »jeder hat nach dem anderen geschaut«. Der Vater habe die Familie zweifellos dominiert. Seine Liebe zum Detail sei besonders ausgeprägt gewesen, alles musste immer perfekt geordnet sein, nach den gleichen Richtlinien ablaufen. Auch Gustavo P. hat Szenen erlebt, in denen der Vater den Sohn unter Druck setzte. »Aber«, so sagt er dem Gericht, »Andreas konnte sich wehren, er ist ja nicht auf den Kopf gefallen.«
Im Mai hat er Andreas in der Untersuchungshaft besucht. Der leugnet die Tat noch immer: »Ich will mich nicht entschuldigen, denn ich war es nicht«, soll er gesagt haben. Am Ende wird auch Gustavo P. nicht wissen, warum der Bruder seiner Freundin die Familie ermordet hat: »Ich … ich finde einfach keinen Grund.«
Nun richtet auch Andreas einige Worte an den Freund der Schwester. Er spricht sehr leise, Emotionen sind ihm nicht anzumerken. »Ich wollte auch noch die Gelegenheit nutzen, mich zu entschuldigen, aber ich weiß nicht, ob dir das was bringt.«
Gustavo P. antwortet ihm. »Du musst dich erst mal vor dir selber entschuldigen. Aber ich glaube nicht, dass du das schaffen wirst.«
8. Prozesstag: Mittwoch, 9. Dezember 2009
An diesem achten Prozesstag werden vor allem Verwandte von Andreas H. gehört. Ihre Berichte stimmen in vielem überein. Hansjürgen H. habe ein »strenges Regime« geführt, aber niemand hatte den Eindruck, dass das die Familienmitglieder gestört habe, im Gegenteil.
»Mein Onkel musste immer Recht haben und alles musste so gemacht werden, wie er es wollte«, so eine Cousine von Andreas, »sonst ist er völlig ausgetickt. Sein Wort war Gesetz.« Die grausige Tat erkläre so etwas jedoch keinesfalls, fügt ihre Mutter, die Schwester von Else H. hinzu und ergänzt: »Ich versteh es nicht. Wenn man mit seinen Eltern nicht klarkommt, ist das doch keine Lösung.«
Die Tante hat Andreas auch in der Untersuchungshaft besucht. Andreas habe ihr dort von dem Konto in der Schweiz erzählt. Das Geld auf diesem Konto gilt der Staatsanwaltschaft noch immer als Hauptgrund für die Morde. Die Anwälte der beiden Täter bestreiten jedoch Habgier als Motiv.
Die Witwe von Andreas’ Patenonkel verwendet, wie andere Zeugen auch, erneut den Ausdruck »Vorzeigefamilie«. Man habe die H.s beneidet. Es sei ein harmonischen Zusammenleben gewesen. »Andreas wurde ganz besonders geliebt«, sagt die Zeugin. Die gesamte Familie sei stolz auf ihn gewesen.
Dabei ist die Vergangenheit des Vaters weniger rühmlich, aber das scheinen die Zeugen auszublenden. Und doch wissen fast alle Anwesenden um den Sex-Shop, den der Vater betrieb. Alle Makel in der »Vorzeigefamilie« lassen sich jedoch nicht so einfach vertuschen.
Der Besuch des Vaters mit seinem Sohn im Bordell
Weitere Kostenlose Bücher