Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
eine Vergewaltigung nicht erinnern kann. Tut er dies, um sich zu schützen? Täter, die schon einmal verurteilt waren und Gerichtsprozesse miterlebt haben, gelten als »befragungserfahren«. Sie wissen, was ihnen zum Verhängnis werden kann, welche Taten als besonders abscheulich und schwerwiegend eingestuft werden.
Die genannten DNA-Spuren sind L.s Sperma. Es wurde an der Leiche des sechsjährigen Kindes, an L.s Unterwäsche und an seinen Genitalien gefunden, obwohl er sich nach der Tat geduscht hat. Es spielt keine Rolle, was der Angeklagte behauptet, eine Vergewaltigung ist bewiesen.
Am Nachmittag des 6. Dezembers ist noch einmal die Mutter des Angeklagten als Zeugin geladen. Ihre Vernehmung war für den 24. November geplant gewesen, musste jedoch verschoben werden, da an jenem Tag die Zeit fehlte.
Die 60-jährige Frau hat die Haare hellblond gefärbt und mit einer Klemme am Hinterkopf zusammengefasst. Sie verteidigt ihren Jungen, lobt ihn, stellt das Zusammenleben mit der Lebensgefährtin Kathrin als ganz normal dar. Mario L. sei ein fleißiger Arbeiter gewesen, zudem war er häuslich, ging selten aus.
In seiner Kindheit hat Ilona L. ihn als »lieben Jungen« erlebt. Da Marios Vater sich nicht ausreichend um die Kinder kümmerte, habe dieser eine enge Beziehung zu seinem Großvater aufgebaut. Ilona L. sagt aus, dass ihr in den Tagen im Frühling 2005, im Zeitraum vor der Tat, nichts Besonderes an ihrem Sohn aufgefallen sei.
Nun werden Briefe verlesen, Briefe, die Mario L. nach der Tat in der Untersuchungshaft geschrieben hat. Einer von ihnen ist an einen vernehmenden Beamten gerichtet, der andere an eine Psychologin der Justizvollzugsanstalt. Sie enthalten nicht viel Neues, im Wesentlichen das, was der Angeklagte selbst zu Prozessbeginn ausgesagt hat. Er schreibt, er habe nicht nur dem Opfer Leid zugefügt, sondern auch Aylas und seiner eigenen Familie. Der ganze Text wirkt gekünstelt.
Danach kommen Mario L.s Vorstrafen aufs Tapet. Das Gericht lässt die Urteile zu L.s vorherigen Taten sowie die jeweiligen Aufnahme- und Entlassungsmitteilungen verlesen.
Medieninformation des Landgerichtes Zwickau
vom 6. Dezember 2005:
Nach der Verlesung der Aufnahme- und Entlassungsmitteilungen über die bisher verbüßten Strafen gab das Gericht seine vorläufige Rechtsauffassung preis, wonach bei diesen festgestellten Strafzeiten aus formellen Gründen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wohl nicht in Betracht kommen dürfte. Sicherungsverwahrung kann nach dem Gesetz neben weiteren Voraussetzungen – unter anderem nur angeordnet werden, wenn ein Täter mehrere Straftaten von erheblichem Gewicht begangen hat. Dies ist beim Angeklagten zwar der Fall. Jedoch dürfen nach der maßgeblichen Vorschrift (§ 66 der Strafprozessordnung) nur Taten berücksichtigt werden, welche nicht länger als fünf Jahre zurückliegen. Diese sog. Rückfallverjährung dürfte hier anzunehmen sein, da auch unter Berücksichtigung der Haft die Vortaten gegenüber dem Tattag 17.05.2005 länger als fünf Jahre zurücklagen.
Die zeitlichen Abstände von L.s Taten sind zu groß. Deshalb kann er nicht als Serientäter verurteilt werden und eine Sicherheitsverwahrung nach Verbüßung der Haftstrafe ist ausgeschlossen. Seine Vorstrafen können aufgrund einer »Rückfallverjährung« nicht herangezogen werden. Das heißt, dass im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht möglich sein wird. Mario L. gilt als »Ersttäter«, da die vorhergehenden Taten länger als fünf Jahre zurückliegen, in Fall des Missbrauchs seiner Neffen ist die Frist vor 33 Tagen abgelaufen.
Bei »Ersttätern« kann laut Gesetz die Sicherungsverwahrung nicht schon zusammen mit der Verurteilung angeordnet werden, auch wenn eine Rückfallgefahr bereits bei der Verurteilung augenfällig ist.
Aylas Mutter ist dem Prozess bisher fast stoisch gefolgt. Niemand weiß, was in ihr vorgeht. Jetzt bricht sie zusammen und muss weinend aus dem Saal geführt werden. L., der auch heute wieder seine adrette Kleidung – weißer Pullover, schwarzer Blazer – trägt, zeigt wie immer keine Regung.
5. Prozesstag: 8. Dezember 2005
Zwei Tage später wird der Prozess fortgesetzt. Von Tag zu Tag wird es in Zwickau ein wenig kälter, so als gleiche sich die Natur dem Geschehen im Gerichtssaal an.
An diesem Donnerstag sind zuerst die vier Zeugen geladen, welche den Angeklagten nach der Tat vernommen haben, darunter der Ermittlungsrichter und Polizeibeamte. Ihre Angaben ähneln
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