Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Sachverständige. Sie soll nachweisen, dass das Gutachten unzutreffend sei, soll beweisen, dass L. zur Tatzeit schuldunfähig war.
Die Nebenklage stellt einen Befangenheitsantrag gegen die Gutachterin der Verteidigung, weil diese den Gerichtsprozess bisher als »Beistand der Verteidigung« mitverfolgt hat. Das Gericht legt fest, über diesen Befangenheitsantrag erst nach erfolgter Aussage der Gutachterin zu entscheiden.
Medieninformation des Landgerichtes Zwickau
vom 12. Dezember 2005:
[…] Wie geplant erhielt heute morgen zunächst der Verteidiger das Wort, damit dieser die Befragung des Sachverständigen […] beenden konnte.
Anschließend beantragte Verteidiger Rechtsanwalt […] zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt schuldunfähig war, mit Frau Dr. […] eine weitere Sachverständige zu hören. Das Gericht kam diesem Antrag nach. Die Entscheidung über einen Befangenheitsantrag gegen die Sachverständige stellte das Gericht zurück. Die Nebenklage hält Frau Dr. […] für befangen, da sie bislang als Beistand der Verteidigung am Prozess teilgenommen hat.
Frau Dr. […], welche Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist, schätzte ein, dass der Angeklagte an einer sog. dissoziativen Identitätsstörung mit Identitätswechsel leidet. Sie geht davon aus, dass diese Störung zum Tatzeitpunkt vorherrschte, mit der Folge, dass dem Angeklagten die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gefehlt habe.
Anders als noch der Sachverständige Dr. […] kam sie aufgrund der forensisch-psychiatrischen Untersuchungen deshalb zum Ergebnis, dass der Angeklagte nicht schuldfähig ist.
Die Gutachterin der Verteidigung hat nicht nur den Angeklagten untersucht, sondern in den zurückliegenden Prozesstagen auch die Zeugenaussagen, darunter die lapidaren Antworten des Angeklagten selbst zur Tat gehört.
Daraus schlussfolgert sie, dass der Angeklagte über »bestimmte Zeiträume am Tattag und während der Tat nicht Bescheid« wisse. Weil L. sich also – laut eigenen Aussagen – nicht an die Vergewaltigung und Ermordung Aylas erinnere, könne er darüber auch »keine Kontrolle« gehabt haben. Sie kommt zu dem Schluss, dass zum Tatzeitpunkt die »Einsichtsfähigkeit in seine Handlungen aufgehoben« war. Und daraus folge, so die Gutachterin der Verteidigung, dass Mario L. schuldunfähig sei. Als Grund für die »Blackouts« gibt sie die Erklärung, es könne sich bei L. um eine multiple Persönlichkeit handeln. Durch den Schrei des kleinen Mädchens sei er in eine andere Persönlichkeit »geswitcht«. Auch in seinem früheren Leben will sie weitere solcher »switches« gefunden haben.
Folgt man den Aussagen der Ärztin, bedeutete das, dass Mario L. im Sinne des Strafrechts nicht für den Mord und die Vergewaltigung verantwortlich ist und demnach auch keine Haftstrafe erhalten kann.
Schuldunfähigkeit, volkstümlich »Unzurechnungsfähigkeit«, ist im Strafgesetzbuch ein Schuldausschließungsgrund. Nulla poena sine culpa – Keine Strafe ohne Schuld.
Schuldunfähig ist unter anderem derjenige, der im Moment der Tat das Schuldhafte seines Handelns nicht erkennt oder nicht in der Lage ist, sich zu steuern. Im Strafgesetzbuch steht unter Paragraph 20 (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen):
»Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abar tigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«
Wenn das Gericht diesem Gutachten folgt, kann L. nicht bestraft werden. Psychisch kranke Täter, bei denen weitere Taten zu erwarten sind, werden nach Paragraph 63 und 64 des Strafgesetzbuches im Maßregelvollzug untergebracht. Dort werden die Täter in erster Linie als Patienten betrachtet. Sie werden mit dem Ziel behandelt, eine weitgehende psychische Stabilisierung und Rehabilitation zu erreichen. Dies ist verbunden mit Vollzugslockerungen bis hin zu Freigang und Urlaub.
L. bleibt stoisch. Aylas Vater verlässt empört den Saal.
Dr. P., der L. für den Staatsanwalt analysiert hat, sieht das anders. Nach seiner Auffassung gibt es genügend Fakten dafür, dass Mario L. sehr wohl die ganze Zeit Kontrolle über sein Tun hatte und sich steuern konnte.
Nun stehen zwei gegensätzliche Gutachten gegeneinander. Oberstaatsanwalt Holger Illing schlägt daher vor, eventuell einen weiteren Gutachter hinzuzuziehen.
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