Dem Leben Sinn geben
entfliehen zu wollen, etwa in Gestalt des Frequent Flyer Ryan Bingham (George Clooney im Film Up in the Air , Regie Jason Reitman, USA 2009). Der Job dieses völlig losgelösten Menschen ist die Zerstörung dessen, was für Andere noch Heimat ist, denn sein Auftrag ist es, Kündigungen auszusprechen, egal wo, wem und warum. Im Film wird dieses Leben in grenzenloser Freiheit zwischen den Kontinenten von der Sehnsucht des Zerstörers nach einer seelischen Heimat konterkariert. Ryan versucht es mit Alex (Vera Farmiga), die ihren sozialen Status gleichfalls den Statusmeilen verdankt, die sie auf zahllosen Flügen sammelt. Sie führt jedoch, wie sich herausstellt, bei ihren Aufenthalten auf der Erde ein ganz gewöhnliches Familienleben, ihr »wahres Leben«, wie sie sagt, während sie ihn für die »kleine Flucht« zwischendurch braucht. Da fühlt er sich so einsam wie nie zuvor. Mehr als jemals ist er darauf angewiesen, eine Heimat bei sich selbst zu finden, die einzige, die ihm hoch über der Erde noch bleibt.
Gibt es eine Heimat auch dort, wo noch niemand war? Heimat ragt über gegenwärtige Räume und über jede Zeit weit hinaus, um beispielsweise im Niemandsland der Utopie Geborgenheit zu bieten. In ihr kann die Liebe zu einer künftigen Welt aufleben, denn Welt ist keineswegs nur das, was der Fall ist, sondern auch das, was der Fall sein kann. Sie ist nie nur Wirklichkeit, immer auch Möglichkeit, nie nur Gegenwart, immer auch Zukunft. Die Utopie lebt von der Hoffnung auf bessere Zeiten, schönere Beziehungen, größeres Glück.
Erst mit Blick auf das, was sein kann, »entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«, meinte Ernst Bloch am Schluss seinesBuchs Das Prinzip Hoffnung (1954-1959). Auch religiöse Erfahrungen sind von der Utopie eines besseren Lebens andernorts inspiriert, wo mehr Heimat lockt, schon beim Auszug aus Ägypten war das so. Die Utopie setzt Menschen in Bewegung und bringt sie dazu, etwas zurückzulassen und möglicherweise zu verlieren, um etwas Anderes zu gewinnen, ohne Gewissheit darüber haben zu können, was das sein wird. Die Hoffnung hält den Horizont der Möglichkeiten offen und begründet eine Heimat in der Zukunft, in der die Möglichkeiten wirklich werden können. Die Sehnsucht drängt auf Verwirklichung, und wenn eine Enttäuschung darauf folgen sollte, wird daraus flugs wieder die Sehnsucht nach anderen Möglichkeiten.
Eine Utopie war lange Zeit der Blick von außen auf die Erde. In seinem Buch Kosmos (1845) stellte sich Alexander von Humboldt den Blick aus dem All vor, um von dort aus die Natur des Planeten und die darin eingebetteten Kulturen mit aller Liebe zum Ganzen und zum Detail auf eindrucksvolle Weise als irdische Heimat zu beschreiben. Viel später erst wurde der Blick mit technischer Hilfe für Astro-, Kosmo- und Taikonauten, im 21. Jahrhundert zudem für die Passagiere privater Raumflüge zugänglich. Seit dieser Verwirklichung der Utopie kann die Erde selbst als Heimat in der unendlichen Schwärze des Alls wahrgenommen werden. Die astronautische Liebe zur Welt gilt diesem Planeten und all den Menschen und Geschöpfen, die auf ihm wohnen, den Stoffen und Steinen dieser bunten Kugel, die von ferne nur noch als ein leuchtender Punkt erscheint, bevor auch der verlöscht.
Der umgekehrte Blick von der Erde aus in die endlosen Weiten des Alls, der eine astronomische Liebe zur Welt ermöglicht, ist seit Menschengedenken bekannt: Er nimmt wirklich das Ganze der Welt in den Blick, auch wenn es nicht wirklich zuüberschauen ist, auch nicht mit der Hilfe moderner Techniken. Beim nächtlichen Blick in den Sternenhimmel kann das Universum als himmlische Heimat im weltlichen Sinne erscheinen, die Liebe kann dem gesamten Kosmos gelten, Teil einer Kunst des Liebens im umfassenden Sinne.
In jeder Art von Darüberhinaus ist Heimat zu finden. Über den eigenen, irdischen Raum, über Menschen, Erde und Sternsysteme hinaus kann es dabei zuletzt um eine himmlische Heimat im anderen Sinne gehen. Als eigentliche Heimat erscheint dann eine geglaubte Unendlichkeit und Ewigkeit, benannt als Göttliches und Gott, abhängig davon, was der jeweilige Mensch im Einzelnen darunter versteht. Als caritas patriae , als Liebe zum Vaterland im religiösen Sinne bezeichnete Thomas von Aquin ( Summa theologiae , II, 24, 11) die Beziehung zu einer unendlichen Dimension, aus der Menschen ihrem Glauben zufolge kommen und in die sie zurückkehren.
Mit
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