Dem Leben Sinn geben
einer solchen Beziehung kann der Einzelne sich vielleicht »von guten Mächten wunderbar geborgen« wissen, wie der Theologe Dietrich Bonhoeffer 1944 aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel an seine Verlobte schrieb, bevor er von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Ohne eine solche Beziehung kann ein Mensch sich auf Erden womöglich verloren fühlen, wenn das Leben schwierig wird und Abgründe sich auftun. Heimat kann jedenfalls unendlich weit über das hinausgehen, was sie zunächst zu sein schien. Überall zwischen dem engsten und weitesten Kreis des Lebens ist Heimat möglich, in abgeschwächter Form zumindest ein Zuhause. Irgendeine Heimat braucht jeder Mensch, wahrscheinlich sogar mehr als eine, aber nur der Einzelne selbst kann entscheiden, wo er sie sucht; nur er kann fühlen, wo er sie irgendwann glücklich gefunden hat.
Von der Liebe zum Leben und
zu einem Darüberhinaus
Liebe zum Leben, zum Schicksal
Wie viele Sonnen, die nachts am Sternenhimmel zu sehen sind, werden von Planeten umkreist? Wie viele Planeten bieten dem Leben eine Heimat? Welcher Art von Leben? Sollte es intelligentes Leben sein: Stellen auch diese Wesen die Frage nach dem Sinn ihres Lebens? Sind sie Ichs? In welchen Beziehungen leben sie? Wie lange leben sie? Wie würden sie die Lebensformen der Menschen wahrnehmen und beurteilen? Könnten sie mit Röntgenaugen die Energien des menschlichen Lebens im Zeitraffer betrachten, würde es für sie wohl den Anschein haben, als seien Schwärme von Glühwürmchen unterwegs. Myriaden von Lichtern würden sie sehen, von denen jedes einzelne kurz aufblitzt und schon wieder verglimmt. Die Gesamtheit dieses Lichtspiels wäre die Menschheit. Aus der Sicht des einzelnen Menschen ist das Licht des Lebens freilich weit mehr als nur ein Augenblick. Endlos zieht sich sein Leben hin, bevor das Ende dann doch viel zu schnell naht. In der langen Zeit zwischendurch kann er zuweilen die Beziehung zum Leben verlieren.
»Was willst Du?« wird Melinda an einem Ort auf dem Planeten gefragt, wo Lichter aller Art besonders nervös flackern, Manhattan, und sie antwortet: »Ich will leben wollen.« Das stößt auf Unverständnis: »Jeder will leben.« Da huscht ein schmerzliches Lächeln über ihr Gesicht: Sie hat es anders erlebt. Das Leben ist für sie zu einer offenen Frage geworden, es erscheint ihr kurz und bedeutungslos, und sie kann sich nurzwei Möglichkeiten vorstellen, darauf zu reagieren: Es komisch oder tragisch zu finden. Entscheidet sie sich für die komische Variante, kann sie das Leben trotz allem genießen, mit viel Lachen und immer neuer Liebe, bis heillose Verwirrung herrscht, wer gerade mit wem. Entscheidet sie sich für die tragische Variante, bleiben ihr nur noch das Weinen und die Verzweiflung übrig, und es läge nahe, dem Leben ein Ende zu setzen. Beide Varianten spielt Melinda versuchsweise durch, so will es der Autor und Regisseur dieses Films von 2004, Melinda und Melinda , Woody Allen.
In immer neuen Filmen inszeniert Allen das Spiel des Lebens und der Liebe als komische, manchmal tragische Reaktion auf die Kürze und Bedeutungslosigkeit des Lebens. Nur eines zieht er nie in Betracht: Dass es eine bloße Deutung sein könnte, das Leben so zu sehen, keineswegs eine endgültig festgestellte Wahrheit. Eine andere Deutung könnte Länge und Bedeutungsfülle für das Leben behaupten, auch dies ohne letzte Wahrheit. Entscheidend ist in dieser Frage nicht die letzte Wahrheit, die niemand kennt: Menschen durchirren ihr Leben, und der jeweils aktuelle Irrtum erscheint ihnen als Wahrheit – jedenfalls ist das eine mögliche Deutung. Wichtiger als eine letzte Wahrheit ist wohl die Lebenswahrheit , mit der ein Mensch durchs Leben geht. Sie ist abhängig von seiner Haltung zum Leben, die wiederum mit seiner Deutung, seiner Vorstellung von der Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit des Lebens zu tun hat. Eine Beziehung zum Leben entsteht auf diese Weise oder kommt gar nicht erst zustande.
In vormoderner Zeit war die Beziehung zum Leben keine Frage der Selbstbestimmung eines Menschen, sondern eine der Fremdbestimmung durch die Gesellschaft, in der er lebte, durch die Natur, auf die er angewiesen war, und vor allemdurch Gott, an den er meist fraglos glaubte. Ein Mensch wurde ins Leben »gerufen« und aus ihm »abberufen« von Gott. Das gottgewollte Leben war gottesfürchtig zu leben, es konnte voller Leid sein, aber auch erfüllt von barocker Lebensfreude, die auf dem schwarzen Boden der Leiderfahrung erst so
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