Dem Sieger eine Handvoll Erde
vertrauliche Unterhaltung als wichtig zu betrachten, und unter den gegebenen Umständen mußte Harlow ihm wohl oder übel recht geben: Die Stille, die an diesem Abend im Speisesaal herrschte, erinnerte an eine Kathedrale und konnte wohl kaum der Tatsache zugeschrieben werden, daß die Gäste in verzücktem Schweigen ihre Mahlzeit genossen; denn die Kochkünste in diesem Hotel waren nicht dazu angetan, den Ruf der österreichischen Küche zu stärken. Sowohl Harlow als auch allen übrigen im Saal war es klar, daß seine Anwesenheit jede normale Unterhaltung unmöglich machte. Infolgedessen hielt Henry es für klug, seine Stimme auf ein kaum verständliches Wispern zu reduzieren und sein Gesicht so nah wie möglich an Harlows heranzubringen. Harlow war, obwohl er sich nichts anmerken ließ, ausgesprochen erleichtert, als die Mahlzeit überstanden war; denn Henry hatte zu allem Überfluß auch noch einen ganz besonders üblen Mundgeruch.
Harlow stand als einer der letzten auf. Ziellos schlenderte er in die nun wieder bevölkerte Halle hinüber. Er stand scheinbar unschlüssig da und ließ seine Blicke umherwandern. Keiner beachtete ihn. Er sah Mary und Rory wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, und am anderen Ende der Halle hatte Henry MacAlpine in eine Unterhaltung verwickelt.
»Nun?« sagte MacAlpine.
Henry hatte eine pharisäische Miene aufgesetzt. »Er roch wie eine Destille, Sir.«
MacAlpine lächelte schwach. »Als alter Glasgower verstehen Sie sicher etwas davon. Gute Arbeit. Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.«
Henry senkte den Kopf. »Schon gut, Mr. MacAlpine.«
Harlow löste seinen Blick von der Szene. Er hatte nicht ein Wort von der Unterhaltung verstanden, aber das war auch gar nicht nötig. Als habe er sich plötzlich zu etwas Bestimmtem entschlossen, ging er auf die Tür zu, die nach draußen führte. Mary sah ihn gehen, vergewisserte sich, daß niemand sie beobachtete, nahm ihre beiden Stöcke und humpelte ihm nach. Nachdem seine Schwester verschwunden war, wartete Rory noch zehn Sekunden und schlenderte dann scheinbar ziellos auf die Tür zu.
Fünf Minuten später betrat Harlow ein Café und setzte sich an einen Tisch, von dem aus er die Tür sehen konnte. Eine hübsche junge Kellnerin erschien, riß die Augen auf und setzte ein charmantes Lächeln auf. Es gab in Europa nur wenige junge Leute, die Johnny Harlow nicht auf Anhieb erkannt hätten.
Harlow erwiderte das Lächeln. »Ein Tonic mit Wasser, bitte.«
Ihre Augen öffneten sich noch weiter. »Wie bitte, Sir?«
»Ein Tonicwater.«
Als die Kellnerin den Drink brachte, sah man ihrem verwirrten Gesicht deutlich an, daß Harlow alle ihre bisherigen Vorstellungen von einem Rennfahrer-Champion völlig umgestoßen hatte. Er nippte an seinem Glas, ohne die Tür aus den Augen zu lassen, und runzelte dann plötzlich die Stirn, als Mary sichtlich furchtsam das Café betrat. Sie sah Harlow sofort, hinkte durch den Raum und setzte sich an seinen Tisch.
»Hallo, Johnny!« sagte sie, und man merkte ihrem Ton an, daß sie keineswegs sicher war, mit offenen Armen empfangen zu werden.
»Ich muß gestehen, ich hatte jemand anders erwartet.«
»Was hast du?«
»Jemand anders erwartet.«
»Das verstehe ich nicht. Wen …«
»Uninteressant.« Harlows Ton war ebenso unfreundlich wie seine Worte. »Wer hat dich denn auf mich angesetzt?«
»Angesetzt? Du meinst, ich soll dir nachspionieren?« Sie starrte ihn an, und ihre Miene drückte eher Verständnislosigkeit als Fassungslosigkeit aus. »Was um Himmels willen meinst du damit?«
Harlow blieb unversöhnlich. »Du weißt ganz genau, was ich meine.«
»O Johnny!« Der Schmerz in ihren großen braunen Augen war ebenso deutlich wie in ihrer Stimme. »Du weißt, daß ich dir niemals nachspionieren würde.«
Diesmal war Harlows Stimme schon etwas sanfter. »Warum bist du dann hier?«
»Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«
»Das steht auf einem anderen Blatt. Was machst du in diesem Café?«
»Ich kam … ich kam gerade zufällig vorbei und …«
»Und du sahst mich und kamst rein.« Er stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. »Warte hier.«
Harlow ging zur Tür, öffnete sie und trat hinaus. Er schaute ein paar Sekunden in die Richtung, aus der er gekommen war, drehte sich um und blickte die Straße hinunter. Aber sein Interesse galt nicht der Straße, sondern dem Hauseingang gegenüber. Dort stand, tief in den Schatten des Eingangs gepreßt, eine Gestalt. Ohne sich anmerken zu
Weitere Kostenlose Bücher