Demokratie! - wofür wir kämpfen
Akt, mit dem neue Wahrheiten geprägt werden. Als die Occupy-Bewegung das Schlagwort »Wir sind die 99 Prozent« prägte, warf sie ein neues Schlaglicht auf die Realität der sozialen Ungleichheit und lenkte damit die öffentliche Diskussion in eine neue Richtung. Ein komplexeres Beispiel ist die an die Adresse der politischen Klasse gerichtete Parole » ¡Que se vayan todos! « (»Haut doch alle ab!«), den die argentinischen Demonstranten im Jahr 2001 prägten. Dieser Slogan brachte nicht nur die Korruption der Politiker, Parteienund des gesamten politischen Systems auf den Punkt, sondern zeigte auch die Möglichkeit einer neuen, partizipativen Demokratie auf. Mit der Schaffung von Wahrheiten geht die Bildung politischer Leidenschaften einher: Werden diese Leidenschaften gemeinsam artikuliert, verkörpern sie eine neue Wahrheit.
Echte Kommunikation zwischen Singularitäten in Netzwerken erfordert also ein Protestcamp, in dem die Teilnehmer voneinander lernen und neues Wissen hervorbringen. Die Teilnahme wird als magischer und erhellender Moment erlebt, denn im Zusammensein entsteht eine neue kollektive Intelligenz und eine neue Form der Kommunikation. Auf den besetzten Plätzen des Jahres 2011, von Tahrir in Kairo über Puerta del Sol in Madrid bis zum Zuccotti Park in New York City, wurden in den Diskussionen, Auseinandersetzungen und Beschlüssen der Versammlungen neue Wahrheiten geschaffen. Arbeitsgruppen und asambleas zu Themen von Wohnrecht und Zwangsversteigerungen bis zu Geschlechterverhältnis und Gewalt dienen als Orte des Selbstlernens und Instrumente der Wissensproduktion. Wer ein solches Camp erlebt hat, versteht, wie in der körperlichen und geistigen Intensität des Umgangs neues Wissen und neue politische Leidenschaften entstehen.
Eines der besten Beispiele für die kommunikativen Möglichkeiten eines Camps ist die jahrzehntelange Erfahrung der zapatistischen Autonomieregierungen im mexikanischen Chiapas. In der Anfangszeit machte die EZLN 2 durch ihre kreative Nutzung der Medien von sich reden, zum Beispiel durch elektronische Verlautbarungen und Internetbotschaften aus dem Urwald. Wichtigerund innovativer sind jedoch die Kommunikationsnetzwerke und politischen Wahrheiten, die in der kollektiven Selbstverwaltung der Zapatisten entstanden. Die anhaltenden Bemühungen der Gemeinden, soziale und Geschlechterhierarchien zu beseitigen und alle an den Entscheidungen und der Selbstverwaltung teilhaben zu lassen, kommen in Slogans wie »gehorchend befehlen« und »fragend gehen wir voran« zum Ausdruck.
Befreit Euch!
Viele Menschen versuchen heute, sich in verschiedenster Weise dem Regime der Verwahrung zu entziehen, vor allem durch Flucht. Wir können keine Gefängnismauern einreißen und keine Armeen besiegen – wir können nur fliehen, die Ketten abstreifen und die Beine in die Hand nehmen. Wer flieht, kommt meist nicht aus der Deckung, sondern bleibt im Verborgenen. Da uns die Überwachung sichtbar macht, können wir uns ihr nur entziehen, indem wir uns unsichtbar machen. Auch die Unsichtbarkeit ist eine Flucht. Die Flüchtlinge, Deserteure und Untergetauchten sind die wahren Helden (oder Antihelden) des Befreiungskampfs der Verwahrten. Aber wenn wir die Flucht ergreifen, sollten wir an George Jackson 3 denken und eine Waffe mitnehmen – wir könnten sie unterwegs vielleicht gebrauchen.
Verweigerung und Flucht sind jedoch nur möglich, wenn wir um unsere Macht wissen. Die Verwahrten halten sich oft für ohnmächtig gegenüber der scheinbar erdrückenden Macht desÜberwachungsstaats. Gefängnisinsassen meinen, im Bauch des Leviathan zu leben und von ihm aufgefressen zu werden. Wie können wir seine Feuerkraft erwidern, wie können wir seinem allgegenwärtigen Blick und seinen allwissenden Speichersystemen entkommen? Um den Ausweg zu finden, müssen wir uns an Michel Foucaults und Niccolò Machiavellis grundlegende Erkenntnisse zur Natur der Macht erinnern: Die Macht ist kein Objekt, sondern eine Beziehung. Egal wie mächtig und arrogant sie über uns thront, sie ist immer von uns abhängig, sie nährt sich von unserer Angst und überlebt nur, weil wir bereit sind, in Beziehung zu ihr zu treten. Suchen wir nach einem Fluchtweg – es gibt immer einen. Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung sind erprobte Waffen im Kampf gegen die freiwillige Knechtschaft.
Manchmal nimmt die Flucht sonderbare Formen an. So waren die Marranen im Spanien des 15. Jahrhunderts gezwungen, zum Christentum überzutreten,
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